In Johannes 2,1-12 berichtet der Evangelist über das erste Wunder Jesu in Kana in Galiläa. Auf einer Hochzeit, zu der auch Jesus eingeladen war, ging der Wein aus. Jesus half in dieser Notlage und verwandelte Wasser in Wein.
Dieses erste Wunder Jesu war das einzige Wunder, bei dem auch Maria, die Mutter Jesu, als anwesend erwähnt wird. Es sieht so aus, als ob sie die Initiatorin dieses Wunders gewesen wäre. Deshalb wird diese Begebenheit als biblischer Hinweis auf ihre Position als Mittlerin gesehen. Ist dem wirklich so? Lesen wir die entsprechenden Verse:
3 Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. 4 Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. 5 Seine Mutter sagte zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut! (Johannes 2,3-6)
Nach Vers 3 war es tatsächlich Maria, die Jesus auf den Notstand aufmerksam machte. Was hat sie sich wohl erwartet? Es scheint, dass es nicht nur um eine bloße Information ging. Maria erwartete, dass ihr Sohn etwas unternehmen sollte. Da Jesus weder Weinbauer noch Weinhändler war, konnte er nicht einfach Wein bereitstellen.
Maria kannte die Verheißungen über ihren Sohn, die sie bei der Ankündigung seiner Geburt vernommen hatte. Sie wusste wohl auch, dass Jesus von Johannes dem Täufer kam, wo er sich taufen ließ und seine ersten Jünger fand. Deswegen legt es sich nahe, dass sie erwartete, dass Jesus bald ein Zeichen tun werde, um sich als der erhoffte Messias zu deklarieren. Auf welche Weise sich Jesus als Messias offenbaren werde, konnte sie natürlich nicht wissen. Doch sie wusste, dass Jesus in dieser Situation etwas tun kann.
Die schroffe Antwort Jesu in Vers 4 überrascht. Dass er seine Mutter mit „Frau“ anspricht, muss nicht notwendigerweise eine Ablehnung ausdrücken. In Johannes 19,26, wo Jesus seine Mutter der Fürsorge des Johannes anvertraut, finden wir dieselbe Anrede. Dort geht es um keine Differenz zwischen Jesus und Maria, sondern Jesus kommt seiner Sorgepflicht für seine Mutter nach.
Jedoch der von der Einheitsübersetzung mit „Was willst du von mir?“ wiedergegebene Satz weist darauf hin, dass Jesus mit seiner Mutter nicht übereinstimmt. Die griechische Wendung τί ἐμοὶ καὶ σοί / ti emoi kai soi heißt wörtlich übersetzt: „Was (ist) mir und dir?“, sinngemäß: „Was habe ich mit dir gemeinsam?“ So haben die Dämonen mit Jesus gesprochen (Vergleiche Matthäus 8,29; Markus 1,24; 5,7; Lukas 4,34; 8,28). Auch in alttestamentlichen Stellen (z. B.: Richter 11,12; 2 Samuel 16,10; 19,23; 1 Könige 17,18) drückt diese Formulierung eine Distanz aus.
Was wollte Jesus mit dem Hinweis auf seine noch nicht gekommene Stunde sagen? Meint Jesus hier wie in Johannes 12,23.27; 17,1 die Stunde seines Todes? Das gäbe im Zusammenhang mit diesem Wunder wenig Sinn. Es ist möglich, den griechischen Satz οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου / upō hēkei hē hōra mu auch als (rhetorische) Frage zu übersetzen: Ist meine Stunde nicht schon gekommen? Dann würde Jesus mit „seiner Stunde“ den Beginn seines öffentlichen Wirkens meinen. Jesus weiß, dass jetzt die Zeit da ist, in der er das Kommen des Reiches Gottes verkünden wird. Er selbst ist der König dieses Reiches und wird das durch Zeichen und Wunder bezeugen. Jesus selbst weiß es. Er ist durch seine beständige Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater in der Lage zu beurteilen, welches Verhalten in welcher Situation angebracht ist. Er braucht nicht den Ratschlag eines Menschen, auch nicht seiner Mutter, um zu wissen, wann er sein erstes Zeichen setzt.
Maria hat das verstanden. Sie hat die Worte ihres Sohnes akzeptiert. Sie wollte nicht weiterhin über ihn bestimmen. Darum hat sie die Diener ganz auf Jesus verwiesen. Was Er euch sagt, das tut! So hat Jesus sein erstes Wunder nicht wegen der Vermittlung seiner Mutter gewirkt, sondern weil er es in dieser Situation als den Willen Gottes erkannt hat.
Der Messias sieht nicht auf die Person. Er ist gerecht. Er macht, was gut und richtig ist. Jeder, der den Willen Gottes tut, ist ihm genauso wichtig wie seine Mutter.
Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. (Markus 3,35)
Bedenkenswert ist auch, dass wir in Johannes 2,5 das letzte uns überlieferte Wort Marias lesen. Das Letzte, was Maria uns sagen will, ist, dass wir das tun sollen, was ihr Sohn uns sagt. Maria will nicht, dass wir mit unseren Anliegen zu ihr kommen, sondern direkt zu ihrem Sohn, der uns durch und durch kennt und uns seine ganze Liebe schenken will.
Kommen wir direkt zu ihm und erkennen wir so seine Herrlichkeit, die er nicht nur bei der Hochzeit zu Kana offenbart hat!
Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn einer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und Mahl mit ihm halten und er mit mir. (Offenbarung 3,20)