Zum Barnabasevangelium

Muslime machen gerne den Vorwurf, dass das Evangelium, so wie wir es heute in der Bibel finden, verfälscht worden sei. Als Alternative wird von manchen das sogenannte Barnabasevangelium genannt. In ihm sei das wahre Evangelium Jesu Christi zu finden.

Barnabas war unter den frühen Christen eine wichtige Persönlichkeit. Er war zwar keiner der zwölf Apostel, war aber in der Urgemeinde als ein treuer und verantwortungsvoller Bruder geschätzt. Da er nur in der Apostelgeschichte erwähnt wird, hat er sich vermutlich erst nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu dem Jüngerkreis angeschlossen. Ob Barnabas Jesus jemals getroffen oder gesehen hat, ist unsicher. Falls der Hebräerbrief, wie von Tertullian in De pudicitia 20 annimmt, und wofür es auch sonst noch gute Gründe gibt, von Barnabas stammt, scheint Hebräer 2,3 dafür zu sprechen, dass er Jesus nicht persönlich gekannt hat.

Der Autor des Barnabasevangeliums gibt sich jedoch als einer der zwölf Apostel Jesu Christi aus (Kapitel 14).

Im Gegensatz zu den kanonischen Evangelien ist die handschriftliche Bezeugung des Barnabasevangeliums extrem schlecht. Es gibt nur eine einzige vollständige Handschrift aus dem 16. Jahrhundert, die in italienischer Sprache vorliegt. Eine spanische Handschrift aus dem 18. Jahrhundert ist unvollständig.

Ich habe mir die Mühe gemacht, dieses Buch durchzulesen, und habe einen Teil meiner Beobachtungen in einem gesonderten Text zusammengefasst.

Besonders auffällig sind folgende Punkte:

  • Der Autor war mit den geografischen Begebenheiten Israels und des Orients nicht vertraut. Z. B. fährt Jesus mit dem Schiff nach Nazareth (Kapitel 20). Nazareth liegt an keinem schiffbaren Gewässer ca. 350 m über dem Meeresspiegel. Von dort ging Jesus in Kapitel 21 nach Kapharnaum hinauf, welches am Ufer des Sees Genezareth 212 m unterhalb des Meeresspiegels liegt. Nach Kapitel 10 dürfte der Ölberg nicht weit von Nazareth sein. In der Realität ist er neben Jerusalem, ca. 100 km Luftlinie von Nazareth entfernt.
    Nach Kapitel 63 soll der Fisch von Jona vom Mittelmeer in die Gegend von Ninive geschwommen sein. Da es damals den Suezkanal noch nicht gab, hätte der Fisch Afrika umrunden und durch den persischen Golf den Tigris stromaufwärts schwimmen müssen.
  • Der Autor war mit den politischen Zuständen der Zeit Jesu nicht vertraut. Nach Kapitel 3 sollte Pilatus zur Zeit der Geburt Jesu unter der Herrschaft des Kaisers Augustus Statthalter gewesen sein und Hannas und Kajaphas Hohe Priester. Korrekt ist einzig der Kaiser Augustus. Es wird auch von kriegerischen Ereignissen erzählt, von denen der Geschichtsschreibung nichts bekannt ist. Im 91. Kapitel treffen drei Armeen mit jeweils 200.000 Mann aufeinander. In Kapitel 208 sterben bei einer innerjüdischen Auseinandersetzung 1000 Menschen. Diese Zeit ist durch Flavius Josephus gut dokumentiert. Diese Ereignisse hätten auch bei ihm Erwähnung gefunden.
  • Im Barnabasevangelium wird Jesus einerseits Christus genannt (bereits in der Überschrift und im Einleitungskapitel). Andererseits bestreitet „Jesus“ immer wieder, dass er der Messias sei (z. B. Kapitel 42). Beide Wörter bedeuten dasselbe: „Gesalbter“. Offensichtlich war der Autor weder der hebräischen oder aramäischen noch der griechischen Sprache mächtig. Auch die Erklärung des Wortes „Pharisäer“ mit „Gottsucher“ in Kapitel 144 zeigt, dass „Barnabas“ keine semitische Sprache sprach.
  • Die Stellung des Messias ist für Mohammed reserviert (z. B. in Kapitel 97). In diesem Punkt widerspricht das Barnabasevangelium dem Koran, demzufolge Jesus der Messias ist.
  • Mohammed wird als präexistent vorgestellt. Nach Kapitel 39 wurde er bereits 60.000 Jahre vor dem Rest der Schöpfung geschaffen. Im selben Kapitel sieht Adam nach seiner Erschaffung die Schahada (das islamische Glaubensbekenntnis) als eine Schrift am Himmel. Gott verheißt dem Adam dann das Kommen Mohammeds.
  • In der Leugnung des Kreuzestodes Jesu und der Lehre, dass Judas statt Jesus gekreuzigt wurde (Kapitel 215-217), folgt „Barnabas“ dem islamischen Dogma.
    Im Kapitel 112 kündigt „Jesus“ an, dass erst, wenn Mohammed kommt, die Schande des Kreuzes von ihm weggenommen werde.
  • Es gibt interessante anatomische Erklärungen.
    Nach Kapitel 35 spuckte der Satan auf den Klumpen Erde, aus dem Gott den Menschen machen wollte. Gabriel hob den Speichel mit etwas Erde auf. Deswegen hat der Mensch den Bauchnabel.
    In Kapitel 40 erfahren wir, warum der Mann den Adamsapfel hat. Als er den Apfel aß, den Eva ihm gab, wollte er das Essen anhalten und steckte sich die Hand in den Schlund.
  • Mehrmals wird die Bibel nach der Vulgata zitiert, z. B. in Kapitel 12 aus Psalm 110,3, in Kapitel 59 aus Ijob 5,7, in Kapitel 146 aus Lukas 15,18. Das spricht für eine Abfassung nach dem 4. Jahrhundert.
  • In Kapitel 82 wird ein 100-jähriger Zyklus für das Jubeljahr genannt. Das jüdische Jubeljahr gab es alle 50 Jahre. Bei den Katholiken gab es die Regel, dass das Jubeljahr alle 100 Jahre gefeiert werden sollte, nur zwischen 1300 und 1343. Das ist ein wichtiges Indiz dafür, dass diese Schrift in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verfasst wurde.

Diese Punkte mögen genügen, um zu zeigen, dass das „Barnabasevangelium“ auf keinen Fall von Barnabas stammen kann. Mehr dazu gibt es hier. Es spricht vieles dafür, dass es sich um ein Werk des Mittelalters, vermutlich des frühen 14. Jahrhunderts handelt. Der Autor scheint über eine gewisse Bibelkenntnis verfügt zu haben, scheute sich aber nicht, diese im Sinne seiner Gedankenwelt zu verfälschen. In seiner Lehre über die Präexistenz und Messianität Mohammeds unterscheidet er sich allerdings auch vom klassischen Islam. Das macht die Berufung auf das Barnabasevangelium auch für Muslime zu einer problematischen Sache.

Die einzigen verlässlichen Quellen über Jesus sind nach wie vor die vier kanonischen Bücher, die das Evangelium Jesu Christi wahr und unverfälscht wiedergeben. Wer dort sucht, wird finden.

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