90 Und Wir ließen die Kinder Isrāʾīls das Meer durchschreiten. Da verfolgten sie Firʿaun und seine Heerscharen in Auflehnung und Übertretung, bis daß, als er vom Ertrinken erfaßt wurde, er sagte: „Ich glaube, daß es keinen Gott gibt außer dem, an den die Kinder Isrāʾīls glauben. Und ich gehöre (nun) zu den (Allah) Ergebenen.“ 91 „Aber jetzt erst! Wo du dich doch zuvor widersetztest und zu den Unheilstiftern gehörtest? 92 Heute wollen Wir dich mit deinem Leib erretten, damit du für diejenigen, die nach dir kommen, ein Zeichen seiest.“ Und viele von den Menschen sind gegenüber Unseren Zeichen wahrlich unachtsam. (Sure 10,90-92)
Für jeden, der die biblische Darstellung des Auszugs Israels aus Ägypten kennt, ist diese koranische Version überraschend. Die Bekehrung des Pharaos kommt in der Bibel nicht vor. Hier aber lesen wir sein Bekenntnis zum Gott Israels als dem einzigen Gott. Er ist ein Allah Ergebener, ein Muslim – schon lange vor Mohammed, dem ersten Muslim.
In der Bibel lesen wir in Exodus 14 über den Auszug. Nach Vers 10 hat der Pharao mit seinem Heer die Israeliten bis zum Schilfmeer verfolgt. Ob der Pharao gemeinsam mit seinem Heer den Israeliten gefolgt ist, bleibt offen. Der Text spricht nur vom Heer des Pharaos, das umgekommen ist.
23 Die Ägypter setzten ihnen nach; alle Pferde des Pharao, seine Streitwagen und Reiter zogen hinter ihnen ins Meer hinein. […] 28 Das Wasser kehrte zurück und bedeckte Wagen und Reiter, die ganze Streitmacht des Pharao, die den Israeliten ins Meer nachgezogen war. Nicht ein Einziger von ihnen blieb übrig. 29 Die Israeliten aber waren auf trockenem Boden mitten durch das Meer gezogen, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand. 30 So rettete der HERR an jenem Tag Israel aus der Hand der Ägypter. Israel sah die Ägypter tot am Strand liegen. (Exodus 14,23.28-30)
Auch im Siegeslied Moses ist nur von Pharaos Wagen und seiner Streitmacht die Rede.
Pharaos Wagen und seine Streitmacht warf er ins Meer. Seine besten Vorkämpfer versanken im Roten Meer. (Exodus 15,4)
Erst in einer späteren dichterischen Darstellung in Psalm 136 heißt es, dass auch der Pharao ins Meer geschüttelt wurde:
[…] und den Pharao und sein Heer schüttelte ins Rote Meer, denn seine Huld währt ewig. (Psalm 136,15)
Die Darstellung, dass der Pharao schon am Ertrinken war und dann gerettet wurde, findet man in der Bibel nicht.
Die Version der 10. Sure steht aber auch in Spannung zu anderen koranischen Texten, die vom Auszug Israels aus Ägypten handeln.
Da übten Wir an ihnen Vergeltung und ließen sie im großen Gewässer ertrinken, dafür, daß sie Unsere Zeichen für Lüge erklärten und ihnen gegenüber unachtsam waren. (Sure 7,136)
„Sie“, das sind die „Leute des Pharaos“. Es ist nur allgemein von ihrem Ertrinken die Rede. Kein Wort von der Rettung des Pharaos, die doch ein Zeichen für diejenigen sein soll, die nach ihm kommen.
77 Und Wir gaben Mūsā ja (als Offenbarung) ein: „Zieh bei Nacht mit Meinen Dienern fort und schlage ihnen einen trockenen Weg durch das Meer; du befürchtest weder, eingeholt zu werden, noch hast du Angst.“ 78 Da verfolgte sie Firʿaun mit seinen Heerscharen, und es überdeckte sie vom Meer, was sie überdeckte. 79 Firʿaun hatte sein Volk in die Irre geführt und nicht rechtgeleitet. (Sure 20,77-79)
Hier steht nicht ausdrücklich, dass der Pharao umgekommen ist. Aber man hat als unbefangener Leser den Eindruck, dass an diesem Verführer und seinem Heer ein Strafgericht vollzogen wurde. Von seiner Rettung spricht kein Wort.
63 Da gaben Wir Mūsā ein: „Schlag mit deinem Stock auf das Meer.“ So spaltete es sich, und jeder Teil war wie ein gewaltiger Berg. 64 Und Wir ließen die anderen dort nahe herankommen. 65 Und Wir retteten Mūsā und diejenigen, die mit ihm waren, allesamt. 66 Hierauf ließen Wir die anderen ertrinken. (Sure 26,63-66)
Dass der Pharao als einziger gerettet wurde, wird auch hier nicht erwähnt.
38 Und Firʿaun sagte: „O ihr führende Schar, keinen anderen Gott weiß ich für euch als mich (selbst). So entfache mir, o Hāmān, einen Brand auf Lehm, und mache mir einen Hochbau, auf daß ich zum Gott Mūsās emporsteige. Ich glaube fürwahr, daß er zu den Lügnern gehört.“ 39 Er und seine Heerscharen verhielten sich ohne Recht hochmütig auf der Erde und glaubten, daß sie (dereinst) nicht zu Uns zurückgebracht würden. 40 Da ergriffen Wir ihn und seine Heerscharen und warfen sie dann in das große Gewässer. So schau, wie das Ende der Ungerechten war. 41 Und Wir machten sie zu Anführern, die zum (Höllen)feuer einladen. Und am Tag der Auferstehung wird ihnen keine Hilfe zuteil werden. 42 Und Wir ließen ihnen einen Fluch im Diesseits nachfolgen, und am Tag der Auferstehung werden sie zu den Verabscheuten gehören. (Sure 28,38-42)
Vers 40 könnte man so verstehen, dass der Pharao nur in das große Gewässer geworfen wurde, was nicht bedeuten muss, dass er in den Fluten umkam. Doch passt Vers 42 überhaupt nicht zu einer Bekehrung des Pharaos.
96 Und Wir sandten ja bereits Mūsā mit Unseren Zeichen und deutlicher Gewalt 97 zu Firʿaun und seiner führenden Schar. Diese folgten dem Befehl Firʿauns; der Befehl Firʿauns aber war nicht rechtweisend. 98 Er wird seinem Volk am Tag der Auferstehung vorangehen. Er führt sie wie zur Tränke ins (Höllen)feuer hinab – eine schlimme Tränke, zu der sie hinabgeführt werden! 99 Und ein Fluch folgte ihnen im Diesseits nach und (wird ihnen) am Tag der Auferstehung (nachfolgen) – eine schlimme Beigabe, die (ihnen) gegeben wird! (Sure 11,96-99)
Der Pharao führt sein Volk in die Hölle. Wie kann er sich da bekehrt haben und Muslim geworden sein?
Und als Wir für euch das Meer teilten und euch so retteten und die Leute Firʿauns ertrinken ließen, während ihr zuschautet! (Sure 2,50)
Hier ist ausdrücklich nur von den Leuten des Pharaos die Rede. Es bleibt zumindest unausgesprochen Raum für die Rettung des Pharaos.
Dieser Überblick zeigt, dass auch innerhalb des Korans die Bekehrung und Rettung des Pharaos in Sure 10 einzigartig ist.
Ich habe die Zitate nach der traditionell angenommenen chronologischen Reihenfolge der Suren angeordnet. Sure 10 wäre zwischen Sure 28 und Sure 11 einzureihen. Das heißt, dass Mohammed und seine Hörer vor der „Herabsendung“ der 10. Sure gedacht haben müssen, dass der Pharao in den Fluten umgekommen ist. Doch auch nachdem Allah Mohammed über die Bekehrung des Pharaos informiert hatte, folgte in Sure 11 die Information, dass der Pharao sein Volk in das Höllenfeuer hinabführen werde. Wie passt das zu seiner Bekehrung? Oder sollen wir 10,92 so verstehen, dass nur sein Leib aus der Flut gerettet wurde, er aber letztlich doch in der Hölle gelandet ist? War es dann nur eine Selbsttäuschung, dass er sich als einen „Allah Ergebenen“ sah? Wenn man nur Sure 10,90-92 liest, würde man eher annehmen, dass er sich zu Allah bekehrt hat.
Es stellt sich auch die Frage, warum in den früheren Schriften nichts von der Errettung des Pharaos steht, wenn diese doch ein Zeichen für die Späteren sein sollte? Was ist das für ein Zeichen, das etwa zweitausend Jahre lang unbekannt war?
Heinrich Speyer1 hat darauf hingewiesen, dass auch die Schrift Pirqe (Aussprüche) de Rabbi Eliezer (43,8) die Bekehrung des Pharaos kennt.
Erkenne die Kraft der Buße! Pharao, König von Ägypten, äußerte sich sehr gottlos: Wer ist Gott, daß ich auf seine Stimme höre? (Exod. 5,2). Doch da er mit demselben Ausdrucke auch Buße tat: Wer ist dir gleich unter den Göttern, Herr! (Exod. 15,11), so errettete ihn Gott von den Toten …; damit er von seiner Kraft und Stärke erzähle.
Rabbi Nechuniah, der diese Worte gesagt haben soll, hat aber nicht bedacht, dass in der Bibel Exodus 15,11 ein Teil des Danklieds Moses ist und nicht vom Pharao gesagt wurde. Überdies erzählte dieser Rabbi auch, dass der Pharao anschließend nach Ninive zog und dort der König war, der auf die Predigt Jonas gehört hat. Dass dazwischen mehr als ein halbes Jahrtausend lag, scheint diesen Rabbi nicht gestört zu haben.
Die Pirqe de Rabbi Eliezer entstanden vermutlich nach 700, enthalten aber älteres Material. Ob jüdische Traditionen, die dieser Schrift zugrunde liegen, auch den Koran beeinflusst haben, bleibt offen. Ich halte es für weniger wahrscheinlich. Doch sieht es so aus, dass die Zuverlässigkeit des Korans und dieser jüdischen Schrift auf ähnlichem Niveau liegen.
Die Bibel betont die Verhärtung des Pharaos. Mit seiner Bekehrung ist daher nicht zu rechnen, unabhängig davon, ob er in den Fluten umgekommen ist. Hätte er sich doch bekehrt, hätten die biblischen Schreiber dieses große Wunder der Gnade Gottes nicht verschwiegen.
Denken sie denn nicht sorgfältig über den Qurʾān nach? Wenn er von jemand anderem wäre als von Allah, würden sie in ihm wahrlich viel Widerspruch finden. (Sure 4,82)
- Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, 3. Nachdruckauflage, Hildesheim 1988, S. 291. ↩