Jesus und die Ehebrecherin – Gehört dieser Abschnitt zur Bibel?

53 Dann gingen alle nach Hause. 8,1 Jesus aber ging zum Ölberg. 2 Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. 3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte 4 und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. 5 Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. 10 Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? 11 Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr! (Johannes 7,53-8,11)

Dieser Abschnitt findet sich in den ältesten Handschriften des Johannesevangeliums nicht. Er fehlt in den Papyri 66 und 75, ebenso in den alten Kodizes Sinaitikus und Vatikanus. Zu den ältesten Textzeugnissen gehört Kodex D aus dem 5. Jahrhundert.

Zahlreiche Handschriften, die diesen Abschnitt enthalten, haben ihn durch Sternchen oder ähnliche Zeichen markiert, um dadurch die Unsicherheit auszudrücken, ob diese Verse zum Text des Evangeliums gehören.

Nicht in allen Handschriften findet sich dieser Abschnitt am selben Ort. Die meisten Manuskripte ordnen den Text zwischen Johannes 7,52 und 8,12 ein. Minuskel 1 (12. Jahrhundert) und einige andere Handschriften haben diese Verse nach Johannes 21,25 eingeordnet, sozusagen als Anhang an das Evangelium. Minuskel 225 (1192) brachte den Text nach Johannes 7,36. Andere Handschriften (Handschriftenfamilie f13 ab dem 11. Jahrhundert) ließen diese Zeilen auf Lukas 21,38 folgen.

Es spricht daher alles dafür, dass der Abschnitt mit der Ehebrecherin ursprünglich nicht Bestandteil des Johannesevangeliums war.

Sollen wir daher annehmen, dass ähnlich wie der Einschub in Johannes 5,3b-4 dieser Abschnitt als späterer Zusatz nicht zur Bibel gehört?

Stilistische Untersuchungen weisen in die Richtung, dass der Stil vom sonstigen Stil des Johannes abweicht. Er würde besser zu den Synoptikern passen. Ulrich Becker schreibt dazu:1

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Geschichte von der Ehebrecherin gattungsgeschichtlich den synoptischen Streitgesprächen zuzuordnen ist: Sie stellt eine geschlossene Perikope dar, in der ganz stilgemäß einer knappen Exposition mit der Einführung der Gegner und Vorbereitung der Frage das eigentliche Gespräch folgt, veranlaßt durch eine direkte, präzis gestellte Frage der Gegenpartei und abgeschlossen durch ein einziges Wort Jesu, das knapp und pointiert den Interpellanten antwortet.

Das würde dazu passen, dass der Text ursprünglich im Lukasevangelium war. Doch sind alle diesbezüglichen Handschriften sehr spät.

Augustinus (354-430) war bewusst, dass dieser Text in vielen Handschriften fehlte. Er hat dazu geschrieben:2

Aber das erschüttert offensichtlich das Gefühl der Ungläubigen, sodass einige Menschen mit geringem Glauben, oder besser gesagt, mit wahrem Glauben, aus Angst, dass ihre Frauen für ihre Sünden ungestraft bleiben würden, aus ihren Kodizes strichen, was der Herr in Bezug auf die Nachlässigkeit des Ehebruchs getan hatte, als ob er die Erlaubnis zur Sünde gegeben hätte, der sagte: „Sündige von nun an nicht mehr.“

Augustinus hat also gedacht, dass diese Verse ursprünglich im Evangelium standen, dass sie aber aus den Handschriften getilgt wurden, weil manche eine Gefahr sahen, dass die Sünde des Ehebruchs dadurch nicht mehr streng genug gesehen würde.

Wir können diesem Wort von Augustinus aber nur entnehmen, dass er den Abschnitt mit der Ehebrecherin als echt betrachtet hat. Seine Erklärung passt aber nicht zum Befund, den die Handschriften liefern.

Den frühesten Hinweis auf die Existenz dieser Geschichte finden wir bei Papias. Eusebius schreibt in seiner Kirchengeschichte:

Ferner führte er aus dem Hebräerevangelium die Geschichte eines Weibes an, das wegen vieler Sünden vor dem Herrn angeklagt worden war. Auch dies mußten wir außer dem Erwähnten noch bemerken. (Eusebius, Kirchengeschichte 3,39,17)

Papias von Hierapolis wirkte im frühen 2. Jahrhundert n. Chr. Er verfasste in fünfbändiges Werk mit dem Titel „Erklärungen von Herrenworten“. Dieses Werk ist leider verloren gegangen. Einen kleinen Auszug aus diesem Werk liefert Eusebius in der Kirchengeschichte.

Diesem Wort von Eusebius können wir entnehmen, dass es zur Zeit von Papias ein „Hebräerevangelium“ gab, das diese Geschichte enthielt, und dass Papias sie auch in sein fünfbändiges Werk aufgenommen hat. Das bedeutet, dass Papias diese Begebenheit für glaubwürdig erachtet hat, auch wenn sie in keinem kanonischen Evangelium stand. Zur Zeit von Papias war der Strom der mündlichen Überlieferung auch noch nicht versiegt. Vielleicht gab es auch aus dieser Überlieferung eine Bestätigung der Authentizität der Geschichte mit der Ehebrecherin.

Es sieht so aus, dass dieser Text, weil erkannt wurde, dass es sich dabei um eine echte und verlässliche Überlieferung handelte, nachträglich in das Johannesevangelium aufgenommen wurde, obwohl er ursprünglich nur in einem außerkanonischen Evangelium stand. Leider ist dieses „Hebräerevangelium“ nicht erhalten. Wenn es schon im frühen 2. Jahrhundert existierte, ist durchaus wahrscheinlich, dass es sich von den später geschriebenen apokryphen Evangelien, die oft reine Produkte menschlicher Fantasie waren, dadurch unterschied, dass es Stoffe enthielt, die auf echte Überlieferung zurückgingen.

Es ist auch zu bedenken, dass es im 2. und 3. Jahrhundert einen strengen Umgang mit sexuellen Sünden gab. Der Text aus Johannes 8, den man leicht gegen diese Strenge anführen konnte3, wurde trotzdem akzeptiert.

Christen glauben nicht, dass das Evangelium als ein Buch vom Himmel herabgesandt wurde, wie Muslime das vom Koran (und auch vom Evangelium) annehmen.

Er hat dir (Mohammed) das Buch mit der Wahrheit offenbart, das zu bestätigen, was vor ihm (offenbart) war. Und Er hat (auch) die Tora und das Evangelium (als Offenbarung) herabgesandt. (Sure 3,3)

Vom Himmel herabgesandt wurde nicht ein Buch, sondern ein Mensch: Jesus Christus, der das Wort Gottes in Person ist.

[…] denn ich bin nicht vom Himmel herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. (Johannes 6,38)

Die vier kanonischen Evangelien sind das Zeugnis von Jesus. Sie erzählen von ihm, um zum Glauben zu führen oder die Gläubigen im Glauben zu stärken.

Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen. (Johannes 20,31)

Wenn zu einem Evangelium später ein Text aus glaubwürdiger Überlieferung zugefügt wurde, liegt ein anderer Fall vor als in Johannes 5, wo ein kurzer Zusatz eingeschoben wurde, der nicht zum besseren Verständnis beiträgt, sondern sogar in eine falsche Richtung lenkt. Die Erzählung über Jesus und die Ehebrecherin bringt aber eine wichtige Information über Jesus, über sein Verhalten seinen Gegnern gegenüber, aber auch über seine Barmherzigkeit zu den Sündern, sogar zu Sündern, die nach dem Gesetz des Mose den Tod verdient hätten. Jesus ist gekommen, um die Menschen zur Umkehr zu führen. Der Abschnitt in Johannes 8 ist ein wertvolles Zeugnis dafür.

Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. (Johannes 3,17)


  1. Ulrich Becker, Jesus und die Ehebrecherin. Untersuchungen zur Text- und Überlieferungsgeschichte von Joh. 7,53-8,11. Berlin 1963, S. 83. 
  2. Augustinus, De adulterinis coniugiis 2,6. Lateinisch zitiert in: Ulrich Becker, S. 24-25. 
  3. Es ist hier aber auch zu bedenken, dass unterschieden werden muss, ob diese Sünden in der Gemeinde geschehen oder vor dem Christwerden. Wer nach der Umkehr zu Jesus in derart gravierender Weise sündigt, muss anders beurteilt werden als ein Mensch vor seiner Umkehr. 

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