Warum ist Josef nach Nazareth gezogen?

Sowohl Matthäus als auch Lukas berichten, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, aber in Nazareth in Galiläa aufgewachsen ist. Im Detail gibt es aber Unterschiede in der Darstellung.

Lukas zufolge wurde Jesus acht Tage nach seiner Geburt beschnitten (Lukas 2,21). 33 Tage nach der Geburt wurde er in Jerusalem „dem Herrn dargestellt“ (Lukas 2,22). Die vom Gesetz (Levitikus 12) vorgeschriebenen Reinigungsopfer wurden im Tempel dargebracht:

[…] ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben. (Lukas 2,24b)

Im Tempel kam es noch zu Begegnungen mit dem Greis Simeon (Lukas 2,25-35) und der Prophetin Hanna (Lukas 2,36-38).

Daraufhin schreibt Lukas:

Als seine Eltern alles getan hatten, was das Gesetz des Herrn vorschreibt, kehrten sie nach Galiläa in ihre Stadt Nazaret zurück. (Lukas 2,39)

Aus dem Lukasevangelium gewinnt man den Eindruck, dass Josef einen guten Monat nach der Geburt Jesu gemeinsam mit Maria und dem Kind nach Nazareth zurückgekehrt sei, vielleicht sogar direkt aus Jerusalem.

In Matthäus sieht die Sache etwas anders aus. Da ist vom Besuch der „Sterndeuter“ und der anschließenden Flucht von Josef, Maria und Jesus nach Ägypten die Rede (Matthäus 2,1-15). Da diese beiden Ereignisse in engem zeitlichen Zusammenhang stehen, sind sie wohl erst nach dem in Lukas 2 erzählten Opfer in Jerusalem anzusetzen.

Josef blieb mit den ihm Anvertrauten mehrere Jahre in Ägypten. Erst nach dem Tod von Herodes machte er sich aufgrund göttlicher Weisung auf den Rückweg nach Judäa (Matthäus 2,19-21).

22 Als er aber hörte, dass in Judäa Archelaus anstelle seines Vaters Herodes regierte, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und weil er im Traum einen Befehl erhalten hatte, zog er in das Gebiet von Galiläa 23 und ließ sich in einer Stadt namens Nazaret nieder. Denn es sollte sich erfüllen, was durch die Propheten gesagt worden ist: Er wird Nazoräer genannt werden. (Matthäus 2,22-23)

Nicht nur beim Zeitpunkt der Rückkehr nach Nazareth unterscheiden sich die beiden Evangelien, sondern auch in der Frage, ob Josef ursprünglich überhaupt vorhatte, dorthin zu ziehen. Nach Matthäus wäre es nur wegen Archelaus gewesen, dass er nicht in Judäa geblieben ist.

Zumindest eines ist offensichtlich: Beide Evangelisten haben voneinander unabhängige Quellen verwendet, die aber in den Kernpunkten, der Geburt Jesu in Bethlehem und seinem Aufwachsen in Nazareth, übereinstimmen. Sollen wir annehmen, dass beiden nur legendenhafte Quellen zur Verfügung standen, die im Detail nicht verlässlich waren?

Oder ist es doch möglich, beide Berichte zu harmonisieren?

Dass Lukas die Rückkehr nach Nazareth nach den Begebenheiten im Tempel angesetzt hat, lässt sich damit erklären, dass er über den Besuch der Weisen und dem anschließenden Exil in Ägypten nicht geschrieben hat und somit mit dem nächsten für ihn wichtigen Ereignis, der Übersiedlung nach Nazareth, fortgesetzt hat.

Vermutlich hatte Josef auch Grundbesitz in Bethlehem. Deswegen musste er wohl anlässlich des Zensus dorthin ziehen. Dass sein Stammvater David mehr als tausend Jahre zuvor dort geboren war, dürfte keinen ausreichenden Grund darstellen, dass Josef sich in Bethlehem in die Steuerlisten eintragen lassen musste. In Lukas 2,3 heißt es:

Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen.

„In seine Stadt“ könnte die Geburtsstadt meinen oder auch die Stadt, in der man Besitz hatte. Bei Josef könnte beides der Fall gewesen sein. Maria hatte ihren Wohnsitz offensichtlich in Nazareth (Lukas 1,26). Vielleicht hat Josef Maria, nachdem sie von ihrem Besuch bei ihrer Verwandten Elisabeth nach Nazareth zurückgekommen war (Lukas 1,56), offiziell geehelicht. Spätestens ab dann sollte er auch einen Wohnsitz in Nazareth haben. Doch wird sich das nicht genau klären lassen.

Dafür, dass Josef Besitz in Bethlehem hatte, spricht, dass in Matthäus 2,11 von einem Haus die Rede ist, in dem sich Josef, Maria und Jesus befanden. Man könnte das auch so erklären, dass Josef zuerst, weil er in einer Herberge keinen Platz fand, sich mit einem Stall zufriedengeben musste, aber bald darauf doch eine ordentliche Unterkunft in einem Haus fand, in dem sich die Familie aufhielt, als die Weisen ankamen.

Rainer Riesner1 hat aber bestritten, dass in Lukas 2,7 überhaupt von einer Herberge die Rede ist.

Der griechische Ausdruck katalyma (κατάλυμα) in Lukas 2,7, den die meisten Übersetzungen mit „Herberge“ wiedergeben, meint nämlich erst einmal nur den großen Wohnraum eines Hauses. Für die Fremdenherberge gebraucht Lukas dagegen den Begriff pandocheion (πανδοχεῖον [Lk 10,34]). Natürlich entfällt mit der angeblichen Herbergsuche die Grundlage für einen wichtigen Teil der Krippenspiele, aber ein Stück größere historische Plausibilität wird gewonnen. Maria kann sich aus verschiedenen Gründen zur Geburt in einen Stall zurückgezogen haben, der vielleicht auch nur noch als Lagerraum diente. Wenn es heißt, dass die Mutter von Jesus „keinen Platz im katalyma hatte“ (Lk 2,7b), so könnte das darauf hinweisen, dass das Haus durch andere Familienangehörige überfüllt war. Vor allem aber verunreinigte eine Geburt einen Raum kultisch (vgl. Lev 12,6). Die fromme Familie von Jesus hat aber Fragen von kultischer Reinheit sehr ernst genommen (Lk 2,21).

In den beiden anderen Stellen, an denen katályma im Neuen Testament vorkommt (Markus 14,14 und Lukas 22,11), steht dieses Wort für den Raum, in dem Jesus mit seinen Jüngern das Pascha essen wollte, also nicht für eine Herberge, sondern den größten Raum des Hauses, der Jesus und seinen Jüngern zum Mahl, nicht aber zum Übernachten zur Verfügung gestellt wurde. Insofern hat Riesners Erklärung etwas für sich. Die Erklärung, dass sich Maria aus Gründen der kultischen Reinheit in einen Stall zurückgezogen hat, kommt mir aber fraglich vor. Haben sich jüdische Frauen zu einer Geburt immer in dieser Weise zurückgezogen? Auch die in Lukas 2,21 erzählte Beschneidung Jesu würde ich noch nicht als Beweis dafür sehen, dass die Familie Jesu „Fragen von kultischer Reinheit sehr ernst genommen“ habe. Die Beschneidung ihrer Söhne war für alle Juden die Norm.

Wenn nun Josef tatsächlich in Bethlehem geboren war und dort auch Besitz hatte, war es für ihn nach der Rückkehr aus Ägypten vielleicht wirklich näherliegend, sich dort niederzulassen. Nur sein berechtigtes Misstrauen dem neuen Herrscher Archelaus gegenüber hat ihn davon abgehalten. Für Maria, die aus Nazareth stammte, war hingegen ihre Heimatstadt der bevorzugte Ort, wohin die Familie dann auch gezogen ist.

Die Quelle, aus der Matthäus schöpfte, ging auf Josef zurück. Matthäus 1-2 erzählen die Ereignisse um die Geburt und die frühe Kindheit Jesu deutlich von seinem Gesichtspunkt aus. Hingegen war Maria die Quelle von Lukas. Entweder hat Lukas sie noch persönlich getroffen. Als Lukas mit Paulus in den Jahren 57-59 in Israel war, konnte Maria noch am Leben sein. Oder Lukas hatte auf Maria zurückgehende authentische Berichte vor sich. Auf jeden Fall wird aus seinen Texten sichtbar, dass Maria die Quelle war.

Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen. (Lukas 2,19)

Seine Mutter bewahrte all die Worte in ihrem Herzen. (Lukas 2,51b)

Die Berichte von Matthäus und Lukas sind eindeutig unabhängig voneinander entstanden, sind aber nicht unvereinbar.


  1. Rainer Riesner, Messias Jesus, Gießen 2019, S. 55. 

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