Kain und Abel im Koran

27 Und verlies ihnen die Kunde von den beiden Söhnen Ādams, der Wahrheit entsprechend, als sie ein Opfer darbrachten. Da wurde es von dem einen von ihnen angenommen, während es vom anderen nicht angenommen wurde. Der sagte: „Ich werde dich ganz gewiß töten.“ Der andere sagte: „Allah nimmt nur von den Gottesfürchtigen an. 28 Wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, so werde ich meine Hand nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten. Ich fürchte Allah, den Herrn der Weltenbewohner. 29 Ich will, daß du meine und deine Sünde auf dich lädst und so einer von den Insassen des (Höllen)feuers sein wirst. Das ist der Lohn der Ungerechten.“ 30 Doch machte ihn seine Seele willig, seinen Bruder zu töten. Und so tötete er ihn. Und er wurde einer von den Verlierern. 31 Da schickte Allah einen Raben, der in der Erde scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die böse Tat an seinem Bruder verbergen könne. Er sagte: „O wehe mir! War ich unfähig, zu sein wie dieser Rabe und die böse Tat an meinem Bruder zu verbergen?“ So wurde er von denjenigen, die bereuen. (Sure 5,27-31)

In der Bibel steht die Erzählung von Kain und Abel, den Söhnen Adams, in Genesis 4,1-16. Dieser Text ist im Hintergrund der koranischen Version zu vermuten. Allerdings fehlen in dem kürzeren Text des Korans einige Aspekte der biblischen Erzählung. Es wurden aber auch Dinge hinzugefügt, von denen in der Bibel nichts steht.

Im Koran werden die Namen der beiden Söhne Adams nicht genannt. Es fehlen auch die Details über ihre Berufe (Ackerbauer und Schafhirt) und der sich daraus ergebenden Opfergaben (von den Früchten der Erde bzw. von den Erstlingen der Herde). Ein Grund für die Zurückweisung des Opfers Kains wird im Koran genauso wenig genannt wie in Genesis.

Auffällig im koranischen Bericht ist, dass Kain seinem Bruder bereits im Vorhinein sagt, dass er beabsichtigt, ihn zu töten, woraufhin es zu einem Dialog zwischen den beiden kommt.

Beachtlich sind die Worte Abels in 5,28, wo er sagt, dass auch wenn Kain seine Hand nach ihm ausstreckt, um ihn zu töten, er das nicht tun werde. Das erinnert mehr an die Bergpredigt als an die Worte, die wir sonst im Koran finden.

Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin! (Matthäus 5,39)

Sie kämpfen auf Allahs Weg, und so töten sie und werden getötet. (aus Sure 9,111)

Diese Worte Abels könnten einen Muslim zum Nachdenken darüber bewegen, ob die Aufforderungen zum Töten im Koran wirklich von Gott kommen. Abel hat nicht so gehandelt, weil er „den Herrn der Weltenbewohner“ gefürchtet hat.

Der zweite Satz Abels gibt auch Grund zum Nachdenken, allerdings in eine andere Richtung.

Ich will, daß du meine und deine Sünde auf dich lädst und so einer von den Insassen des (Höllen)feuers sein wirst. Das ist der Lohn der Ungerechten. (Sure 5,29)

Dieser Satz widerspricht einerseits einer Aussage des Korans, dass niemand die Sündenlast eines anderen tragen kann.

Keine lasttragende (Seele) nimmt die Last einer anderen auf sich. Und wenn eine Schwerbeladene (zum Mittragen) ihrer Last aufruft, wird nichts davon (für sie) getragen, und handelte es sich dabei um einen Verwandten. (Sure 35,18a)

Hier aber sieht Abel in der Höllenstrafe, die Kain betreffen wird, ein Tragen auch seiner, Abels Sünde.

Der Islam, der ablehnt, dass der gerechte Jesus für die Sünden der Menschen gestorben ist, akzeptiert, dass der ungerechte Kain für die Sünden des gerechten Abel in der Hölle leiden könnte.

In der Bibel wird die Sünde Abels nie thematisiert. Er ist der Gerechte.

So wird all das unschuldige Blut über euch kommen, das auf Erden vergossen worden ist, vom Blut Abels, des Gerechten, bis zum Blut des Zacharias, Barachias Sohn, den ihr zwischen dem Tempelgebäude und dem Altar ermordet habt. (Matthäus 23,35)

Aufgrund des Glaubens brachte Abel Gott ein besseres Opfer dar als Kain; durch diesen Glauben erhielt er das Zeugnis, dass er gerecht war, was Gott durch die Annahme seiner Opfergaben bezeugte; und durch den Glauben redet Abel noch, obwohl er tot ist. (Hebräer 11,4)

[…] und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug. Warum hat er ihn erschlagen? Weil seine Taten böse waren, die Taten seines Bruders aber gerecht. (1 Johannes 3,12)

Befremdlich ist auch, dass dem Koran zufolge Abel wollte, dass Kain in die Hölle kommt, noch dazu auch wegen Abels Sünden. Hätte er seinen Bruder nicht eher vor seiner Bluttat warnen sollen? Gottes Wille ist, dass alle Menschen gerettet werden.

Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. (1 Timotheus 2,4)

Gottes Diener wollen dasselbe wie ihr Herr. Da Gott die freie Entscheidung seiner Geschöpfe akzeptiert, werden nicht alle gerettet. Das geschieht deswegen, weil sich die Menschen gegen Gott stellen, der ihr Bestes will. Dieser vom Koran dem Abel in den Mund gelegte Satz zeigt, dass der Autor dieser Verse nicht besonders mit Gottes Willen vertraut war.

Im Rahmen des Denkens, dass Gott seine Diener vor dem Tod bewahrt, so wie es im Hinblick auf Jesus der üblichen Erklärung von Sure 4,157-158 entspricht, könnte man auch die Frage stellen, warum Gott dann nicht Abel vor dem mörderischen Angriff seines Bruders bewahrt hat.

Im Koran gibt es keine Entsprechung zu Genesis 4,9-16, wo Gott nach der Ermordung Abels Kain zur Rede stellt und ihm seine Strafe verkündet.

Der koranische Autor hielt hingegen die Erzählung über den Raben, den Allah geschickt haben soll, damit er Kain zeige, „wie er die böse Tat an seinem Bruder verbergen könne“ für wichtiger. Böse Taten sollen jedoch nicht verborgen, sondern aufgedeckt werden.

Im Hintergrund von Sure 5,31 steht eine jüdische Überlieferung:

Als Kain (seinen Bruder) Abel erschlug, lag dieser niedergestreckt (am Boden), und Kain wusste nicht, was er tun sollte (d.h. was er mit dem toten Körper anfangen sollte). So sandte der Heilige, er sei gepriesen, zwei reine Vögel. Einer von ihnen tötete seinen Genossen. Er (d.h. der Zurückgebliebene) scharrte ein Loch in die Erde mit seinen Krallen und begrub ihn. Und davon lernte Kain und hob ein Loch im Boden aus und begrub Abel. (Midrash Tanchuma, Parashat Bereschit 10:1-2)

Der koranische Autor hatte allerdings dieses Dokument nicht vor sich, sondern kannte nur die entsprechende Überlieferung. So wurden aus den im jüdischen Text genannten reinen Vögeln ein Rabe, der nach der Thora (Levitikus 11,15Deuteronomium 14,14) ein unreiner Vogel war. Die Ähnlichkeit zwischen dem koranischen Text und der jüdischen Überlieferung ist aber offensichtlich.

Seltsam ist auch, dass Kain in Sure 5,31 durch die Erkenntnis seiner Unfähigkeit, seinen Bruder zu begraben, zur Reue geführt wurde.

Er sagte: „O wehe mir! War ich unfähig, zu sein wie dieser Rabe und die böse Tat an meinem Bruder zu verbergen?“ So wurde er von denjenigen, die bereuen.

Man könnte den Text so interpretieren, dass Kain gesehen habe, dass er den Mord nicht verbergen kann und dadurch erst die Tragweite seiner Untat erkannt habe. Aber im Zusammenhang geht es nicht darum, da ihm Allah ja den Raben geschickt hat, um ihm zu zeigen, wie er die böse Tat an seinem Bruder verbergen könne.

In der Bibel lesen wir nichts über Kains Reue, aber über seine Furcht vor der Schwere der Strafe.

13 Kain antwortete dem HERRN: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. 14 Siehe, du hast mich heute vom Erdboden vertrieben und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und jeder, der mich findet, wird mich töten. (Genesis 4,13-14)

Daraufhin hat Gott Kain ein Schutzzeichen gegeben, damit er nicht getötet werde. Von einer echten Reue Kains ist nicht die Rede. Wieder finden wir Entsprechendes in jüdischen Überlieferungen.1

„Kain ging hinweg vom Ewigen.“ (Genesis 4:16) […] Da begegnete ihm Adam und fragte ihn: Was ist aus deiner Rechtssache geworden? Kain antwortete: Ich habe Buße getan und in Folge dessen bin ich freigesprochen worden. Da fing Adam an, sein Gesicht zu schlagen (vor Freude) und sprach: Also so groß ist die Kraft der Buße, das habe ich nicht gewußt! Sofort stand der erste Mensch auf und sang Psalm 92:1. (Genesis Rabba 22,16)

Qain stand gegen seinen Bruder Abel auf und erschlug ihn. Da traf ihn folgender Urteilsspruch: Unstet und flüchtig sollst du auf Erden sein (Gen. 4,12)! Sofort trat Qain hin und bekannte seine Sünde vor Gott; denn so heißt es: Zu groß ist meine Schuld, als daß ich sie ertragen könnte (Gen. 4,13) … Verzeih doch meine Sünde; denn sie ist groß. Sogleich fand er Erbarmen vor Gott … (Deuteronomium Rabba 8,1)

Nach dem syrischen Kirchenvater Aphrahat (Homilie 14) hat Gott Kain nahegelegt, Reue zu zeigen und Buße zu tun. Dieser hat sich aber geweigert.2

Der koranische Autor hat die Erzählung über Kain und Abel wohl nicht direkt aus der Bibel gekannt, sondern in Gestalt jüdischer Überlieferungen, die er dann nach seinem Ermessen verwendet hat. Damit sollte klar sein, dass es sich auch bei diesem Abschnitt des Korans um ein Werk von Menschen handelt, keinesfalls um das ewige Wort des Allmächtigen.


  1. Siehe dazu: Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, 3. Nachdruckauflage, Hildesheim 1988, S. 86-87. 
  2. Speyer, S. 87. 

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