1 Du, Menschensohn, nimm dir einen Lehmziegel, leg ihn vor dich hin und ritze eine Stadt darauf ein: Jerusalem! 2 Verhänge eine Belagerung gegen sie: Bau gegen sie einen Belagerungswall; schütte gegen sie einen Damm auf; leg gegen sie ein Truppenlager an und stell gegen sie ringsum Sturmböcke auf! 3 Du, nimm eine Eisenplatte und stell sie als eiserne Mauer zwischen dich und die Stadt! Richte dein Gesicht auf sie: So ist sie unter Belagerung und du belagerst sie. Ein Zeichen ist dies für das Haus Israel. 4 Du, leg dich auf deine linke Seite und leg die Schuld des Hauses Israel darauf! Die Zahl der Tage, die du darauf liegst, trägst du ihre Schuld. 5 Ich aber, ich setze für dich hiermit die Jahre ihrer Schuld in einer Zahl von Tagen fest: dreihundertneunzig Tage. So sollst du die Schuld des Hauses Israel tragen. 6 Wenn du diese beendet hast, leg dich auf die andere, deine rechte Seite, und trag vierzig Tage lang die Schuld des Hauses Juda, einen Tag für jedes Jahr: Einen Tag für jedes Jahr setze ich für dich fest. 7 Dann sollst du dein Gesicht und deinen entblößten Arm auf die Belagerung Jerusalems richten und du sollst gegen es weissagen. 8 Siehe, ich lege dir Stricke an, sodass du dich nicht von einer Seite auf die andere drehen kannst, so lange, bis du die Tage deiner Belagerung beendet hast. (Ezechiel 4,1-8)
Der Prophet Ezechiel gehörte zu den Juden, die bereits ca. zehn Jahre vor der Zerstörung Jerusalems nach Babylonien ins Exil geführt wurden. Dort, fern der Heimat, wurde er von Gott zum Propheten berufen. Er sollte seine Volksgenossen in der Verbannung warnen. Er tat das auch durch symbolische Handlungen, die seine Botschaft verdeutlichen sollten.
Die erste dieser Symbolhandlungen, von der wir lesen, war eine symbolische Belagerung Jerusalems. Der Prophet sollte dadurch zeigen, dass das Gericht über Jerusalem erst kommen wird. Sie sollten sich keine falsche Hoffnung auf eine baldige Rückkehr machen.
Auf einem vermutlich noch ungebrannten Lehmziegel sollte er eine Skizze der Stadt Jerusalem zeichnen. Diesen Ziegelstein, der in der Hitze der Sonne hart wurde, sollte er dann insgesamt 430 Tage lang „belagern“. Wie Ezechiel das in der Praxis ausgeführt hat, wird nicht berichtet. Ist er tatsächlich 430 Tage lang fast ununterbrochen vor dem Ziegelstein gelegen oder nur zu gewissen Zeiten, wenn viele Leute an seinem Ort vorbeigingen, die dieses Zeichen sehen sollten? Die Stricke, die ihm Gott laut Vers 8 anlegen würde, sollten die Konsequenz ausdrücken, mit der Ezechiel jeweils auf einer Seite liegen sollte.
Rätselhaft sind die Zahlen. Jeder Tag soll für ein Jahr stehen, für ein „Jahr ihrer Schuld“. Vermutlich ist bereits in der Antike die Symbolik dieser Zahlen nicht mehr so klar verstanden worden, weil die griechische Übersetzung der Septuaginta andere Zahlen nennt. In Vers 4, wo im hebräischen Text keine Zahl steht, ist von 150 Tagen die Rede, in Vers 5 von 190 Tagen. Die vierzig Tage für Juda sind gleich. Vermutlich sind die 190 Tage als die Gesamtzahl gedacht und 150 Tage für Israel.
Als Jerusalem einige Jahre später tatsächlich belagert wurde, dauerte die tatsächliche Belagerung länger als 390 + 40 = 430 Tage. Sie begann am 10. Tag des zehnten Monats im 9. Jahr Zidkijas (2 Könige 25,1). Nach der Umrechnung von Claus Schedl war das der 5. Jänner 5871. Am 9. Tag des 4. Monats des 11. Jahres Zidkijas (= 19. Juli 586)2 wurde eine Bresche in die Stadtmauer geschlagen (2 Könige 25,3-4). Am 10. Tag des 5. Monats desselben Jahres (= 17. August 586)3 rückten die Babylonier in die Stadt ein und brannten diese nieder. Alleine die Zeit bis zum Schlagen der Bresche waren ca. 560 Tage. Allerdings war die Belagerung nicht durchgehend, weil die Babylonier zwischenzeitlich abgezogen waren, um ein Entsatzheer des Pharao abzuwehren (Jeremia 37,5). Wie lange die Belagerung dadurch unterbrochen war, ist nicht bekannt. Die Zeit der Belagerung war insgesamt wohl aber länger als die 430 Tage.
Bei Ezechiel ist von den Jahren der Schuld des Hauses Israel und der Schuld des Hauses Juda die Rede. Das passt dann auch nicht so gut zu der Angabe der Zeit der Belagerung.
Könnte mit den Jahreszahlen die ungefähre Zeit gemeint sein, die die beiden Reiche jeweils ohne Tempel waren?
Die Reichsteilung war nach der Datierung von Claus Schedl im Jahre 931 v. Chr. Damals hat sich Israel von Juda und auch vom Tempel getrennt. 390 Jahre danach war das Jahr 541. Der Tempel wurde 586 zerstört. Vierzig Jahre danach war das Jahr 546. Wenn wir davon ausgehen, dass Ezechiel keine genaue Zeittafel der Geschichte Israels im Kopf hatte, sind die Enddaten der beiden Fristen annähernd gleich.
Die Rückkehr aus dem Exil und der Wiederaufbau des Tempels waren allerdings nicht 546 oder 541, sondern erst einige Jahre später. Die ersten Rückkehrer machten sich 538 auf den Weg. Bald danach wurde am wieder errichteten Altar wieder geopfert (Esra 3,3). Der Tempelbau geriet allerdings ins Stocken und wurde erst 520-515 durchgeführt.
Wenn man auf mathematische Präzision, die man bei einer prophetischen Symbolhandlung nicht erwarten kann, keinen Wert legt, würden die Zahlen annähernd passen. Bis zur Wiederaufnahme der Opfer im Jahr 538 würde die Differenz 3 bzw. 8 Jahre ausmachen. Ezechiel könnte also die Zeit gemeint haben, die Israel und Juda ohne Tempel und vor allem ohne Opfer auskommen mussten. Dadurch hätte er seinen Zeitgenossen zwar die Hoffnung auf baldige Rückkehr genommen, andererseits aber doch darauf hingewiesen, dass es eine Zeit geben wird, in der die Schuld der beiden Häuser Israel abgetragen sein wird.
Es ist klar, dass diese Deutung nur bei den Zahlen des hebräischen Textes zutrifft, nicht aber bei den Zahlen der Septuaginta.
Diese Erklärung setzt voraus, dass auch Exilierte aus dem Nordreich zurückkehren würden. Es gibt Indizien, dass das tatsächlich geschehen ist, auch wenn das in den Texten, die die Rückkehr aus dem Exil beschreiben, nicht ausdrücklich thematisiert wird. Das ist jedoch nicht Thema dieses Beitrags und wird vielleicht später behandelt werden.