Also kennen wir von jetzt an niemanden mehr dem Fleische nach; auch wenn wir früher Christus dem Fleische nach gekannt haben, jetzt kennen wir ihn nicht mehr so. (2 Korinther 5,16)
Was hat Paulus gemeint, wenn er schreibt, dass er früher Christus dem Fleische nach gekannt hat? Hat er zwischen dem „historischen Jesus“ und dem „Christus des Glaubens“ unterschieden, wie es manche Theologen getan haben und noch tun?
Das würde in Konsequenz bedeuten, dass das irdische Leben Jesu nicht so wichtig gewesen wäre. Gewiss ist für Paulus das irdische Wirken Jesu in seinen Briefen kein Hauptthema. Da Paulus kein Zeuge der Worte und Taten Jesu war, hat er es nicht als seine (Haupt-)Aufgabe gesehen, darüber zu informieren. Das konnten andere besser. Das bedeutet aber nicht, dass das für ihn bedeutungslos gewesen wäre. Die Erniedrigung und Selbstentäußerung Jesu, von der Paulus in Philipper 2,7-8 schreibt, betrifft sein ganzes Leben, nicht nur seinen Tod.
[…] 7 sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; 8 er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.
Die Unterscheidung zwischen dem „historischen Jesus“ und dem „Christus des Glaubens“ ist ein Konstrukt neuzeitlicher Theologen, über das sich Paulus vermutlich sehr gewundert hätte. Der Christus des Glaubens ist der historische Jesus.
Paulus geht es um die Veränderung, die er und auch andere bei ihrem Christwerden durchgemacht haben.
Weil er, wie es in Vers 15 heißt, nicht mehr für sich selbst, sondern für Jesus, der für ihn starb und auferweckt wurde, lebt, hat er nun eine neue Perspektive gewonnen. Er beurteilt alles nicht mehr „nach dem Fleisch“, sondern aus der neuen, ihm von Gott geschenkten Sichtweise.
Er kennt jetzt Jesus nicht mehr so wie vor seiner Bekehrung, als er ihn in seinen Jüngern verfolgte. Er hat seine Sichtweise „dem Fleische nach“, d. h., seine „menschliche“ Perspektive aufgegeben.
Verschiedene neuere Übersetzungen oder Übertragungen geben die Wendung „nach dem Fleisch“ mit „nach menschlichen Maßstäben“ wieder. So z. B. die Neue evangelistische Übersetzung:
Deshalb beurteilen wir jetzt niemand mehr nach menschlichen Maßstäben. Auch wenn wir Christus früher so angesehen haben, so tun wir das jetzt nicht mehr.
Paulus schreibt nicht, was er damit genau gemeint hat. Naheliegend ist, dass er den Anspruch Jesu innerhalb seines Verständnishorizonts nicht erkennen und daher auch nicht akzeptieren konnte. Darum hat er auch die Jünger Jesu als Gotteslästerer verfolgt und dachte damit Gott zu gefallen.
Es könnte auch sein, dass Paulus seine Vorstellung über den Messias gemeint hat. Paulus schreibt in Vers 16 nicht „Jesus“, sondern „Christus“. „Christus“ ist die griechische Entsprechung von „Messias“, dem „Gesalbten“. Wollte Paulus sagen, dass er durch die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn seine Vorstellung über den Messias verändert hat? Dass er den Messias nicht mehr als den irdischen König sah, als den ihn viele Juden erwarteten, sondern in seiner geistlichen Dimension erkannte?
Es ist möglich, dass er das gemeint hat, aber keineswegs sicher. „Christus“ steht ohne Artikel, was darauf hinweist, dass er dieses ursprünglich als Funktionsbezeichnung verwendete Wort schon als eine Art Name verstanden hat.
Auch wenn wir nicht im Detail wissen, welchen Aspekt Paulus vorrangig ansprechen wollte, ist klar, dass es um die Erneuerung des Denkens und der Beurteilung ging, die er durch die Umkehr erfahren hat. Das betrifft nicht nur Paulus, sondern jeden Menschen, der sich durch Jesus Christus zu einem neuen Menschen nach dem Willen Gottes verändern lässt.
Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2 Korinther 5,17)