11 Da kam Petrus zu sich und sagte: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich der Hand des Herodes entrissen hat und alldem, was das Volk der Juden erwartet hat. 12 Als er sich darüber klar geworden war, ging er zum Haus der Maria, der Mutter des Johannes, mit dem Beinamen Markus, wo nicht wenige versammelt waren und beteten. 13 Als er am Außentor klopfte, kam eine Magd namens Rhode, um zu hören, wer es sei. 14 Sie erkannte die Stimme des Petrus, doch vor Freude machte sie das Tor nicht auf, sondern lief hinein und berichtete: Petrus steht vor dem Tor. 15 Da sagten sie zu ihr: Du bist nicht bei Sinnen. Doch sie bestand darauf, es sei so. Da sagten sie: Es ist sein Engel. (Apostelgeschichte 12,11-15)
Diese Stelle aus der Apostelgeschichte ist eine der Stellen, die von Katholiken als Begründung für die Lehre über die Schutzengel herangezogen wird. Jeder Mensch habe von Gott einen Engel zugeteilt bekommen, der ihn bewachen und beschützen soll. Den Gläubigen wird empfohlen, sich ihren Schutzengeln im Gebet anzuvertrauen. Am 2. Oktober gibt es sogar ein eigenes Schutzengelfest.
Doch worum geht es in diesem Text wirklich?
Petrus war von König Agrippa verhaftet worden, um nach dem Paschafest dem Volk vorgeführt und dann wohl auch hingerichtet zu werden (Apostelgeschichte 12,4). Die Gemeinde betete deswegen inständig zu Gott (Apostelgeschichte 12,5), und Petrus wurde auf wunderbare Weise durch einen Engel aus dem streng bewachten Gefängnis befreit (Apostelgeschichte 12,6-10). Als er danach zum Haus der Maria ging und ihm Rhode nicht öffnete, sondern der versammelten Gemeinde berichtete, dass Petrus vor der Tür stehe, glaubten sie das nicht und versuchten nach einer ersten, nicht gerade höflichen Antwort es mit dem Satz „Es ist sein Engel“ zu erklären.
Die Jerusalemer Bibel merkt dazu an:
Hier klingt der volkstümliche Glaube an die Schutzengel an, die als eine Art von geistigen „Doppelgängern“ ihrer Schützlinge galten.
Diese Erklärung entspricht nun aber auch nicht der katholischen Lehre über die Schutzengel. Dadurch würden wir vor ein zusätzliches Problem gestellt, warum gerade in der Hausgemeinde, zu der Petrus offensichtlich gehörte, solche eigenartige Vorstellungen vorgekommen wären.
Eine mögliche Erklärung der Stelle könnte sein, dass man in einer außergewöhnlichen Situation, die man sich nicht erklären kann, auf Gedanken kommt, die man unter normalen Umständen nicht haben würde. Die versammelten Jünger wären sonst nicht auf die Idee gekommen, dass der Schutzengel von Petrus an das Tor klopfen und mit dessen Stimme sprechen würde. Aber sie wussten, dass Petrus streng bewacht im Gefängnis lag. Deswegen haben sie die nächstliegende Erklärung, dass Petrus selber vor dem Tor stünde, verworfen. Es sieht so aus, dass sie sich die Erhörung ihres Gebets anders vorgestellt hatten.
Bei nüchterner Betrachtung hätte sich ihnen die Frage gestellt, warum ein Engel ans Tor klopfen muss und nicht direkt im Haus zu ihnen sprechen würde. Und warum hätte der Engel mit der Stimme von Petrus sprechen sollen?
Aber vielleicht ist diese Situation viel einfacher zu erklären. Das griechische Wort ἄγγελος / ángelos hat ebenso wie das hebräische Wort מֲלְאָךְ / mal′āk die Grundbedeutung „Bote“. Es wird sowohl für irdische Boten (z. B. Lukas 7,24) als auch für Engel, von Gott als Boten gesandte Geistwesen, verwendet.
Wäre es nicht naheliegend, dass die im Haus Marias versammelten Brüder gemeint hätten, dass ein Bote mit einer Nachricht über Petrus vor dem Tor stehe? Vielleicht wäre es Petrus selbst gelungen, einen Boten mit einer wichtigen Nachricht zu ihnen zu senden, oder sonst jemand hätte etwas Wichtiges über Petrus erfahren und hätte diese Botschaft zur Gemeinde gebracht. Es gäbe verschiedene Szenarien, die man sich vorstellen könnte, was mit dem Satz „Es ist sein Bote“ gemeint gewesen sein könnte.
C. P. Thiede schreibt1:
[…] und während Petrus ein wenig ungeduldig weiter an die Tür klopft (12,16), wollen sie nun wenigstens glauben, dass da jemand steht – vielleicht jemand mit einer Nachricht von Petrus, einer letzten Botschaft vor der Hinrichtung.
[…] mitunter wird die Stelle daher so aufgefasst, dass hier der Engel des Petrus in seiner Gestalt erscheint […]. Aber weder Rhode noch einer der anderen hat jemanden gesehen; sie haben nur die Stimme gehört. Die vernünftigste Erklärung bleibt daher, »ángelos« als Boten des Petrus aufzufassen.
Mir erscheint die Erklärung, dass die Brüder an einen menschlichen Boten gedacht haben, der gegebenen Situation viel besser zu entsprechen als die Erklärung mit dem Schutzengel.
Das heißt natürlich nicht, dass es keine Engel gibt, oder dass Gott die Seinen nicht durch Engel beschützen würde. Es ist Gottes Sache, zu entscheiden, auf welche Weise er hilft. Der Mensch soll Gott die Ehre geben und ihm für den erfahrenen Schutz danken. Ob Gott das nun durch einen Engel oder anders macht, ist für uns nicht wichtig.
Auch unsere Gebete sollen wir an Gott richten, nicht an seine Diener, die Engel. Die Bibel kennt keine Gebete zu Engeln. Auch Irenäus von Lyon hat im 2. Jahrhundert Gebete zu Engel abgelehnt. Er schreibt, welche Praktiken die Kirche im Gegensatz zu den Gnostikern nicht pflegt.
Keine Engel ruft sie an, keine Zaubersprüche gebraucht sie, noch macht sie irgend welche frevelhaften Experimente. Rein, lauter und offen richtet sie ihre Gebete zu dem Herrn, der alles erschaffen hat, und ruft den Namen unseres Herrn Jesu Christi an und gebraucht ihre Wunderkraft zum Nutzen der Menschen, nicht zu ihrer Verführung. (Irenäus, Gegen die Häresien, 2,32,5)
Irenäus sah das Gebet zu Engeln auf einer Ebene wie Zaubersprüche und andere okkulte Praktiken. Deswegen wird ein Gläubiger sich diese Praxis nicht aneignen. Sie widerspricht nicht nur der Bibel, sondern auch noch der Praxis des 2. Jahrhunderts.
1 Wer im Schutz des Höchsten wohnt, der ruht im Schatten des Allmächtigen. 2 Ich sage zum HERRN: Du meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, auf den ich vertraue. (Psalm 91,1-2)
- Carsten Peter Thiede, Geheimakte Petrus, Stuttgart 2000, S.221 und Fußnote 259 auf S.312f. ↩