Und was soll ich noch sagen? Die Zeit würde mir nicht reichen, wollte ich von Gideon erzählen, von Barak, Simson, Jiftach, David und von Samuel und den Propheten. (Hebräer 11,32)
Im Hebräerbrief wird Jiftach (Jephtah) unter den Glaubenshelden des Alten Bundes aufgezählt. Der Schreiber des Briefs führt aber nicht näher an, in welchem Punkt dieser Richter das große Vorbild im Glauben war.
In Richter 11,29-40 lesen wir über Jiftachs Sieg über die Ammoniter, die Israel bedrängten. Eingerahmt wird der kurze Bericht über seinen siegreichen Kampf (Richter 11,32-33) von einem umfangreicheren Text über Jiftachs Gelübde für den Fall seines Sieges und dessen Erfüllung danach.
30 Jiftach legte dem HERRN ein Gelübde ab und sagte: Wenn du die Ammoniter wirklich in meine Hand gibst 31 und wenn ich wohlbehalten von den Ammonitern zurückkehre, dann soll, was immer mir aus der Tür meines Hauses entgegenkommt, dem HERRN gehören und ich will es als Brandopfer darbringen. (Richter 11,30-31)
34 Als Jiftach nach Mizpa zu seinem Haus kam, siehe, da kam ihm seine Tochter entgegen mit Handtrommeln und Reigentänzen. Sie war sein einziges Kind; er hatte weder einen Sohn noch eine andere Tochter. 35 Und es geschah, sobald er sie sah, zerriss er seine Kleider und sagte: Weh, meine Tochter! Du hast mich tief gebeugt und du gehörst zu denen, die mich ins Unglück stürzen. Habe ich doch dem HERRN gegenüber meinen Mund zu weit aufgetan und kann nun nicht mehr zurück. 36 Sie erwiderte ihm: Mein Vater, du hast dem HERRN gegenüber deinen Mund zu weit aufgetan. Tu mit mir, wie es aus deinem Mund hervorgegangen ist, nachdem dir der HERR Rache an deinen Feinden, den Ammonitern, verschafft hat! 37 Und sie sagte zu ihrem Vater: Nur das eine soll mir gewährt werden: Lass mir noch zwei Monate Zeit, damit ich in die Berge hinabgehe und zusammen mit meinen Freundinnen meine Jungfrauschaft beweine. 38 Er entgegnete: Geh! und ließ sie für zwei Monate fort. Und sie ging mit ihren Freundinnen hin und beweinte in den Bergen ihre Jungfrauschaft. 39 Und es geschah, als zwei Monate zu Ende waren, kehrte sie zu ihrem Vater zurück und er erfüllte an ihr sein Gelübde, das er gelobt hatte; sie aber hatte noch mit keinem Mann Verkehr gehabt. So wurde es Brauch in Israel, 40 dass Jahr für Jahr die Töchter Israels hingehen und die Tochter des Gileaditers Jiftach besingen, vier Tage lang, jedes Jahr. (Richter 11,34-40)
Im Text steht nicht ausdrücklich, dass Jiftach seine Tochter geopfert hat. Er wird aber seit der Antike von Autoren mit sowohl jüdischem als auch christlichem Hintergrund so verstanden. So schrieb Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert:
Manchmal wäre es auch pflichtwidrig, ein Versprechen einzulösen, einen Eid zu halten. […] Was soll ich denn von Jephte sagen, der zur Erfüllung des Gelübdes, das er gelobt hatte, nämlich Gott darzubringen, was immer ihm zuerst begegnen würde, seine Tochter opferte, weil sie ihm nach dem Siege zuerst in den Weg gekommen war? Besser wäre es gewesen, nichts Derartiges zu versprechen, als das Versprechen mit einem Kindesmord einzulösen. (Ambrosius, De Officiis Ministrorum, 1, 50, 255)
Es stellt sich die Frage, inwiefern Jiftach für den Autor des Hebräerbriefs ein Glaubensheld war, wenn er so eine schreckliche Tat begangen hat, von der Gott durch den Propheten Jeremia sagte:
[…] was ich nie befohlen habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist. (Jeremia 7,31b)
Professor Rabbi Jonathan Magonet hat in seinem Artikel „Did Jephtah Actually Kill His Daughter?“ Argumente vorgebracht, die dafür sprechen, dass Jiftach kein Menschenopfer dargebracht hat. Ich denke, dass seine Argumente es wert sind, geprüft zu werden und möchte seine wichtigsten Gedanken kurz wiedergeben.
Jiftachs Gelübde
Der zweite Teil von Richter 11,31 lautet:
[…] dann soll, was immer mir aus der Tür meines Hauses entgegenkommt, (1) dem HERRN gehören und (2) ich will es als Brandopfer darbringen.
Es ist nicht klar dargelegt, ob er mit einem Menschen oder mit einem Tier gerechnet hat, das ihm entgegenkommen sollte. Spätantike Rabbis haben aufgeworfen, dass Jiftach damit rechnen musste, dass ihm ein Tier, das in Israel nicht als Opfer erlaubt war, wie etwa ein Hund, entgegenkommen könnte.1
Man müsste von Jiftach erwarten, dass ihm das bewusst war.
Jonathan Magonet schlägt vor, die beiden Teile des Gelübdes nicht mit einem „und“, sondern mit einem „oder“ zu verbinden. Die hebräische Konjunktion וְ / wə ist so flexibel, dass sie auch wenn es der Zusammenhang fordert, mit „oder“ übersetzt werden kann.2
Magonet schreibt (Hervorhebung von mir):3
Das „vav“ könnte aber auch als „oder“ gelesen werden, so dass das, was oder wer auch immer herauskommt, Gott geweiht wird und nur, wenn es sich als angemessen erweist, geopfert wird. Dieser letzte Vorschlag läuft Gefahr, wie Apologetik zu klingen, um Jephthah einen gewissen Spielraum zu geben, aber die Zweideutigkeit ist im Text vorhanden.
Das jährliche Ritual der Beweinung von Jiftachs Tochter
In den Versen 39 und 40 wird vom jährlichen Brauch der Töchter Israels erzählt, die Tochter Jiftachs zu „besingen“. Das Wort תָּנָה / tānāh für „besingen“ steht sonst nur in Richter 5,11, wo die rettenden Taten des HERRN in positiver Weise besungen werden. Sollte es sich in 11,40 um ein Beklagen handeln?
Magonet weist darauf hin, dass in Richter 11,40 die Präposition לְ / lə auch bedeuten kann, dass die Töchter Israels zu der Tochter Jiftachs gesungen haben, dass sie nicht über ihren Tod geklagt haben, sondern jährlich zu ihr gegangen sind und in ihrer Gegenwart über sie gesungen haben.
Die Wendung מִיָּמִ֣ים ׀ יָמִ֗ימָה / mîjāmîm jāmîmāh (wörtlich: „von Tagen zu Tagen“, hier übersetzt mit: „Jahr für Jahr“) konnte einerseits eine dauerhafte Einrichtung meinen (Exodus 13,10), sich aber auch auf die Lebenszeit eines konkreten Menschen beziehen (1 Samuel 1,3; 2,19). Es wäre also möglich, dass es sich um einen Brauch handelte, der nur während des Lebens der unverheirateten Tochter Jiftachs gepflegt wurde.
Magonet schreibt:
Wenn dies die Absicht des Verses ist, dass die israelitischen Frauen jedes Jahr zu ihr pilgerten, erklärt dies, warum diese offenbar institutionalisierte Praxis, Jephthas Tochter als jährliches Ritual zu beklagen, nirgendwo sonst in der hebräischen Bibel erwähnt wird. Das deutet darauf hin, dass das Ritual nur so lange institutionalisiert war, wie sie lebte […]
Die Jungfräulichkeit der Tochter Jiftachs wird betont.
Es fällt auf, dass im Text wiederholt betont wird, dass sie eine Jungfrau blieb, nicht aber ihr Tod.
- […] Lass mir noch zwei Monate Zeit, damit ich in die Berge hinabgehe und zusammen mit meinen Freundinnen meine Jungfrauschaft beweine. (Vers 37)
- Er entgegnete: Geh! und ließ sie für zwei Monate fort. Und sie ging mit ihren Freundinnen hin und beweinte in den Bergen ihre Jungfrauschaft. (Vers 38)
- […] sie aber hatte noch mit keinem Mann Verkehr gehabt. (Vers 39)
Magonet:
Warum liegt die Betonung darauf, dass sie Jungfrau blieb und nicht auf ihrem Tod? Ich glaube, dass dies darauf hindeutet, dass sie nicht wirklich getötet wurde und für den Rest ihres Lebens Jungfrau blieb.
Ein weiterer Beleg dafür, dass die Geschichte nicht behauptet, sie sei getötet worden, ist das Fehlen jeglicher Proteste gegen Jephthas „Opfer“, weder von Seiten des Volkes noch von Seiten Gottes. Außerdem war Jephthah noch weitere sechs Jahre bis zu seinem Tod als Richter tätig (Richter 12,7). (aus Fußnote 8)
Durch den Verzicht auf eine Heirat seiner Tochter hat Jiftach auf Nachkommenschaft verzichtet. Er, der aus ungeordneten Verhältnissen stammte (Richter 11,1), wurde zwar zum „Haupt und Anführer“ der Gileaditer gemacht (Richter 11,11), aber seine Familie würde aussterben. Auch für seine Tochter war der Verzicht auf Kinder ein Verzicht auf einen der größten Werte für eine Frau in der damaligen Gesellschaft.
Weitere Gedanken
Magonet erwähnt noch einen anderen Aspekt.
Ihre Geschichte ist zweischneidig. Der Verzicht auf ihre Zukunft als Mutter macht ihr sichtlich zu schaffen. Sie weint zwei Monate lang darüber, ebenso wie ihre Freundinnen, und alle Frauen Israels tun dies jedes Jahr vier Tage lang, bis sie stirbt. Dennoch ist Jephthas Tochter auch das Symbol für ein vielleicht einzigartiges Experiment weiblicher Spiritualität, für die „Zugehörigkeit zum Herrn“, wie sie in den ersten Worten von Jephthas Gelübde zum Ausdruck kommt. Als ihr Vater unschlüssig zu sein scheint, ob er das Gelübde einhalten soll, ist sie es, die die Verantwortung für ihren Glauben übernimmt und ihn dazu drängt, seinen Schwur zu erfüllen. Als solche ist sie vielleicht nicht nur eine Frau, die man bemitleiden, sondern auch bewundern sollte.
Ob es wirklich ein „einzigartiges Experiment weiblicher Spiritualität“ war, ist für mich fraglich. Exodus 38,8 und 1 Samuel 2,22 sprechen von Frauen, die am Eingang des Offenbarungszelts Dienst taten. Leider ist über diese Frauen sonst nichts bekannt, außer dass die in 1 Samuel Erwähnten von den Söhnen Elis missbraucht wurden.
Die Entscheidung der Tochter Jiftachs, dem HERRN zu gehören und dafür auf Ehe und Kinder zu verzichten, könnte man als eine Vorbereitung auf die Worte Jesu in Matthäus 19,12 sehen.
Denn manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches willen. Wer es erfassen kann, der erfasse es.
Ich sehe den vielleicht größten Einwand gegen die vorgebrachten Gedanken darin, dass das Verständnis, dass Jiftach seine Tochter tatsächlich geopfert hat, schon auf das Altertum zurückgeht. Allerdings verweist Magonet auch auf jüdische Gelehrte aus dem 12./13. Jahrhundert, die ein anderes Verständnis hatten, konkret auf
[…] den Vorschlag von Abraham Ibn Esra, dem später Rabbi David Kimchi im Namen seines Vaters folgte, dass Jephthah ihr ein Haus außerhalb der Stadt und Unterhalt für ihr ganzes Leben zur Verfügung stellte. (Fußnote 12)
Spricht nicht auch die Erwähnung Jiftachs als Glaubenshelden in Hebräer 11,32 dafür, dass der Autor des Hebräerbriefs im 1. Jahrhundert die Erzählung in Richter 11 nicht als Menschenopfer verstand?
- Genesis Rabba 60,3. ↩
- So z. B. in Genesis 26,11: Wer diesen Mann oder seine Frau anrührt, wird mit dem Tod bestraft. ↩
- Die Zitate aus Magonets Artikel wurden mit deepl.com übersetzt. ↩