Fehlgeburt oder Frühgeburt?

22 Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau treffen, sodass ihre Kinder abgehen, ohne dass ein weiterer Schaden entsteht, dann muss der Täter eine Buße zahlen, die ihm der Ehemann der Frau auferlegt; er muss die Zahlung nach dem Urteil von Schiedsrichtern leisten. 23 Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, 24 Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, 25 Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme. (Exodus 21,22-25)

Abtreibung wird in der Bibel nicht direkt thematisiert.

Einige Stellen zeigen bzw. setzen voraus, dass der Mensch auch im Mutterleib schon ein Mensch ist, um den Gott in seiner Liebe weiß.

13 Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter. 14 Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau: Wunderbar sind deine Werke. 15 Dir waren meine Glieder nicht verborgen, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde. 16 Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen. In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage, die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war. (Psalm 139,13-16)

4 Das Wort des HERRN erging an mich: 5 Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. (Jeremia 1,4-5)

Hört auf mich, ihr Inseln, merkt auf, ihr Völker in der Ferne! Der HERR hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt. (Jesaja 49,1)

41 Und es geschah, als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt 42 und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. 43 Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? 44 Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. (Lukas 1,41-44)

15 Als es aber Gott gefiel, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, 16 in mir seinen Sohn zu offenbaren, damit ich ihn unter den Völkern verkünde, da zog ich nicht Fleisch und Blut zu Rate. (Galater 1,15-16)

Im Zusammenhang mit Diskussionen über die Abtreibung wurde und wird mitunter auf Exodus 21,22-23 verwiesen. Da der Abgang des Ungeborenen, das üblicherweise als Fehlgeburt gedeutet wird, nur mit einer Geldstrafe sanktioniert wird, könne nicht von der Tötung eines Menschen die Rede sein. Also werde in der Bibel das Ungeborene nicht als Mensch betrachtet.

Es gibt große Unterschiede zwischen den Übersetzungen von Vers 22a:

Einheitsübersetzung 1980: Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau treffen, so daß sie eine Fehlgeburt hat, ohne daß ein weiterer Schaden entsteht, […]

Einheitsübersetzung 2016: Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau treffen, sodass ihre Kinder abgehen, ohne dass ein weiterer Schaden entsteht, […]

Luther 2017: Wenn Männer miteinander streiten und stoßen dabei eine schwangere Frau, sodass ihr die Frucht abgeht, ihr aber sonst kein Schaden widerfährt, […]

Elberfelder 2006: Wenn Männer sich raufen und ⟨dabei⟩ eine schwangere Frau stoßen, sodass ihr die Leibesfrucht abgeht, aber kein ⟨weiterer⟩ Schaden entsteht, […]

Buber: Wenn sich Männer raufen und verletzen dabei ein schwangeres Weib, daß ihr die Kinder abgehn, aber es geschieht nicht das Ärgste […]

Zürcher 2007: Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau stossen, so dass sie vorzeitig gebärt, sonst aber kein Schaden entsteht, […]

Schlachter 2000: Wenn Männer sich streiten und eine schwangere Frau stoßen, sodass eine Frühgeburt eintritt, aber sonst kein Schaden entsteht, […]

Neue evangelistische Übersetzung: Wenn Männer sich prügeln und dabei eine schwangere Frau stoßen, sodass sie eine Frühgeburt hat, aber sonst kein ernstlicher Schaden entstanden ist, […]

Der Hauptunterschied zwischen den Übersetzungen besteht darin, ob durch den Schlag auf die schwangere Frau eine Fehlgeburt oder eine Frühgeburt ausgelöst wird. Übersetzt man mit „Fehlgeburt“, dann wäre der in Vers 23 genannte „weitere Schaden“ wohl eine Verletzung oder sogar der Tod der schwangeren Frau. Übersetzt man mit „Frühgeburt“, dann würde der „weitere Schaden“ auch den Tod des zu früh geborenen Kindes beinhalten.

Die griechische Übersetzung der Septuaginta, die diesen Abschnitt interpretierend wiedergibt, lautet:1

22 Wenn aber zwei Männer raufen und eine schwangere Frau stoßen und dabei ihr noch nicht ebenbildliches Kind abgeht, so soll er mit einer Geldstrafe bestraft werden; was der Mann der Frau ihm auferlegt, soll er nach rechtlicher Festlegung geben. 23 Wenn es aber ausgebildet ist, so soll er Leben für Leben geben, […]

Der „weitere Schaden“ liegt nach dem Verständnis der Septuaginta-Übersetzer dann vor, wenn das Kind bereits „ausgebildet“ ist, das heißt wohl, dass das Kind schon klar als Mensch erkenntlich ist. Dann handelt es sich um ein Tötungsdelikt.

Was sagt der hebräische Text? Der fragliche Teil von Vers 22 lautet:

וְיָצְא֣וּ יְלָדֶ֔יהָ: wejāze’û jelādähā / „und es kommen heraus ihre Kinder“

Es ist festzuhalten, dass der Text von „Kindern“ spricht, nicht von „Frucht“ oder „Leibesfrucht“, wie es in der sonst um genaue Übersetzung bemühten Elberfelder Bibel heißt. Unabhängig davon, ob es tot oder lebend aus dem Leib der Mutter kommt, handelt es sich um ein Kind, also um ein menschliches Wesen. Im Fall einer Fehlgeburt wurde durch die Involvierung in die Rauferei ein Mensch getötet.

Das Verb יָצָא / jāzā („hinausgehen, herauskommen“) finden wir im Alten Testament auch im Zusammenhang mit einer Geburt:

24 Als die Zeit ihrer Niederkunft gekommen war, siehe, da waren Zwillinge in ihrem Schoß. 25 Der Erste, der hervorkam, war rötlich, über und über mit Haaren bedeckt wie mit einem Mantel. Sie gaben ihm den Namen Esau. 26 Darauf kam sein Bruder hervor; seine Hand hielt die Ferse Esaus fest. Man gab ihm den Namen Jakob, Fersenhalter. Isaak war sechzig Jahre alt, als sie geboren wurden. (Genesis 25,24-26)

27 Als die Zeit kam, dass sie gebären sollte, siehe, da waren Zwillinge in ihrem Leib. 28 Bei der Geburt streckte einer die Hand heraus. Die Hebamme griff zu, band einen roten Faden um die Hand und sagte: Dieser ist zuerst herausgekommen. 29 Als er aber seine Hand zurückzog, siehe, da kam sein Bruder heraus. Da sagte sie: Warum hast du dir den Durchbruch erzwungen? So gab man ihm den Namen Perez – Durchbruch -. 30 Dann erst kam sein Bruder zum Vorschein, an dessen Hand der rote Faden war. Man gab ihm den Namen Serach – Rotglanz -. (Genesis 38,27-30)

[…] und sprach: Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter; nackt kehre ich dahin zurück. Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen; gelobt sei der Name des HERRN. (Ijob 1,21)

An allen fett hervorgehobenen Stellen steht im Hebräischen das Verb יָצָא / jāzā. Wenn dieses Wort für die Geburt lebender Kinder verwendet wird, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass in Exodus 21,22 notwendigerweise von einer Fehlgeburt die Rede ist. Durch den Schlag auf die Schwangere muss das Kind in ihrem Leib ja nicht zwangsläufig umkommen. Daher liegt meines Erachtens die Deutung auf eine Frühgeburt näher. Der „weitere Schaden“ wäre dann entweder der Tod des Kindes oder eine Verletzung oder der Tod der Mutter.

Das Hebräische kennt mit נֶפֶל / näfäl ein eigenes Wort für „Fehlgeburt“, das in Ijob 3,16 parallel zu dem Wort עוֹלֵל / ʿôlēl („Säugling, Kind“) steht. Wäre in Exodus 21,22 eine Fehlgeburt gemeint, hätte dieses Wort verwendet werden können. In Exodus 23,26, das zur selben Gesetzessammlung gehört, wird „eine Fehlgeburt haben“ mit dem Verb שָׁכֹל / šākōl ausgedrückt. Dieses Wort kann aber auch nur „kinderlos sein“ meinen.

Aber auch wenn man die in Vers 22 angesprochene Situation als eine Fehlgeburt versteht, kann aufgrund der unterschiedlichen Sanktion nicht geschlossen werden, dass es sich bei dem getöteten Kind nicht um einen Menschen handle. In jedem Fall ist von einem Kind die Rede.

Der Mensch ist Mensch vom ersten Augenblick seiner Existenz an. Wer sich am Leben eines Ungeborenen vergreift, tötet einen Menschen, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist.


  1. Septuaginta Deutsch, Stuttgart, 2. Auflage 2010, S. 77. 

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