Ist der Ausschluss aus der Synagoge im Johannesevangelium unhistorisch?

Im Johannesevangelium kommt das Wort ἀποσυνάγωγος / aposynágōgos dreimal vor. Dieses Adjektiv bedeutet „aus der Synagoge ausgeschlossen“. Von neueren Theologen wird das vielfach als ein Hinweis auf die fehlende Historizität und eine späte Datierung dieses Evangeliums gesehen, da der Ausschluss der Christen aus der Synagoge erst deutlich nach der Zerstörung des Tempels geschehen sei.

Die erste Stelle ist in Johannes 9:

Das sagten seine Eltern, weil sie sich vor den Juden fürchteten; denn die Juden hatten schon beschlossen, jeden, der ihn als den Christus bekenne, aus der Synagoge auszustoßen. (Johannes 9,22)

Der Zusammenhang ist die Heilung eines Blindgeborenen am Sabbat. Die Eltern des Geheilten hatten Angst, aus der Synagoge ausgestoßen zu werden und wollten daher den jüdischen Führern keine Antwort geben und haben sie an ihren Sohn verwiesen. Dieser war mutiger als seine Eltern und hatte daher die Folgen seines Mutes zu tragen:

30 Der Mensch antwortete ihnen: Darin liegt ja das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher er kommt; dabei hat er doch meine Augen geöffnet. 31 Wir wissen, dass Gott Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und seinen Willen tut, den erhört er. 32 Noch nie hat man gehört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat. 33 Wenn dieser nicht von Gott wäre, dann hätte er gewiss nichts ausrichten können. 34 Sie entgegneten ihm: Du bist ganz und gar in Sünden geboren und du willst uns belehren? Und sie stießen ihn hinaus. (Johannes 9,30-34)

Die zweite Stelle steht in Johannes 12,42:

42 Dennoch kamen sogar von den führenden Männern viele zum Glauben an ihn; aber wegen der Pharisäer bekannten sie es nicht offen, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. 43 Denn sie liebten die Ehre der Menschen mehr als die Ehre Gottes. (Johannes 12,42-43)

Der Evangelist beschreibt hier am Ende des öffentlichen Wirkens Jesu die Einstellung mancher führender Juden.

Die dritte Stelle findet sich in den Abschiedsreden Jesu an seine Jünger in der Nacht vor seinem Tod.

1 Das habe ich euch gesagt, damit ihr keinen Anstoß nehmt. 2 Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen, ja es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten. 3 Das werden sie tun, weil sie weder den Vater noch mich erkannt haben. (Johannes 16,1-3)

Hier hat Jesus im Rahmen der Ankündigung von Verfolgungen auch vom Ausstoß aus der Synagoge gesprochen. Dazu passt sinngemäß auch Lukas 6,22, auch wenn dort das Wort aposynágōgos nicht steht:

Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausstoßen und schmähen und euren Namen in Verruf bringen um des Menschensohnes willen.

Johannes 16,2 bietet unter diesen drei Stellen die kleinste Schwierigkeit, weil Jesus auch eine Bedrohung ankündigen konnte, die erst längere Zeit später eintreten sollte.

Die erstgenannten Stellen handeln jedoch von einer konkreten Sanktion, die bereits zur Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu bestand und am geheilten Blindgeborenen auch vollzogen wurde. Wenn man davon ausgeht, dass der Verfasser des Johannesevangeliums die Situation zur Zeit der Niederschrift seines Werkes darstellte, wären diese Worte gänzlich unhistorisch.

Wenn in Johannes 9,22 und 12,42 ein allgemeiner Beschluss für alle Juden weltweit gemeint wäre, dann müssten diese Stellen tatsächlich unhistorisch sein.

Wir lesen in der Apostelgeschichte mehrfach, dass die Jünger in den Synagogen das Evangelium verkündet haben, z. B.:

19 Und nachdem er (Paulus) etwas gegessen hatte, kam er wieder zu Kräften. Einige Tage blieb er bei den Jüngern in Damaskus; 20 und sogleich verkündete er Jesus in den Synagogen: Dieser ist der Sohn Gottes. (Apostelgeschichte 9,19-20)

Als sie in Salamis angekommen waren, verkündeten sie das Wort Gottes in den Synagogen der Juden. Johannes hatten sie als Helfer bei sich. (Apostelgeschichte 13,5)

14 Sie selbst wanderten von Perge weiter und kamen nach Antiochia in Pisidien. Dort gingen sie am Sabbat in die Synagoge und setzten sich. 15 Nach der Lesung aus dem Gesetz und den Propheten schickten die Synagogenvorsteher zu ihnen und ließen ihnen sagen: Brüder, wenn ihr ein Wort des Zuspruchs für das Volk habt, so redet! 16 Da stand Paulus auf, gab mit der Hand ein Zeichen und sagte: Ihr Israeliten und ihr Gottesfürchtigen, hört! (Apostelgeschichte 13,14-16)

Es geschah: In Ikonion gingen sie ebenfalls in die Synagoge der Juden und redeten in dieser Weise und eine große Zahl von Juden und Griechen wurde gläubig. (Apostelgeschichte 14,1)

Wenn die Androhung des Ausschlusses aus der Synagoge nur die Stadt Jerusalem betraf, und dort auch nur die hebräisch- oder aramäischsprachigen Synagogen, gibt es keinen Grund, der gegen die Geschichtlichkeit dieser Anordnung spricht.

An allen Stellen, in denen in der Apostelgeschichte von der Verkündigung der Apostel in Jerusalem spricht, findet diese nicht in den Synagogen statt.

Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf; er erhob seine Stimme und begann zu reden: Ihr Juden und alle Bewohner von Jerusalem! Dies sollt ihr wissen, achtet auf meine Worte! (Apostelgeschichte 2,14)

Diese Verkündigung muss bei dem Haus, in dem die Jünger versammelt waren (Apostelgeschichte 2,2), geschehen sein.

11 Da er sich Petrus und Johannes anschloss, lief das ganze Volk bei ihnen in der sogenannten Halle Salomos zusammen, außer sich vor Staunen. 12 Als Petrus das sah, wandte er sich an das Volk: Israeliten, was wundert ihr euch darüber? Was starrt ihr uns an, als hätten wir aus eigener Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, dass dieser gehen kann? (Apostelgeschichte 3,11-12)

Die Halle Salomos war am Tempelplatz. Das Tempelareal war auch der Ort der folgenden Begebenheiten:

Durch die Hände der Apostel geschahen viele Zeichen und Wunder im Volk. Alle kamen einmütig in der Halle Salomos zusammen. (Apostelgeschichte 5,12)

Sie gehorchten und gingen bei Tagesanbruch in den Tempel und lehrten. (Apostelgeschichte 5,21a)

Und sie ließen nicht ab, Tag für Tag im Tempel und in den Häusern zu lehren, und verkündeten das Evangelium von Jesus, dem Christus. (Apostelgeschichte 5,42)

Es wäre auch möglich, dass die Jünger den Tempel bevorzugt zur Verkündigung verwendet haben, weil auf dem großen Gelände des Tempelplatzes mehr Menschen erreichbar waren. Aber es hätte zugleich auch die Möglichkeit gegeben, in Synagogen zu verkündigen. Davon ist aber keine Rede.

Synagogen in Jerusalem werden nur im Zusammenhang mit der Verkündigung durch Stephanus erwähnt.

8 Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk. 9 Doch einige von der sogenannten Synagoge der Libertiner und Kyrenäer und Alexandriner und Leute aus Kilikien und der Provinz Asien erhoben sich, um mit Stephanus zu streiten; 10 aber sie konnten der Weisheit und dem Geist, mit dem er sprach, nicht widerstehen. (Apostelgeschichte 6,8-10)

Es steht auch hier nicht ausdrücklich, dass Stephanus in der Synagoge das Evangelium verkündet hat. Es heißt nur, dass einige von einer (oder mehreren?) griechischsprachigen Synagoge(n) gegen Stephanus aufgetreten sind. Das spricht dafür, dass Stephanus dort aktiv war. Es ging hier nicht um Synagogen, in denen hebräisch oder aramäisch gesprochen wurde, sondern griechisch.

Im Tempel, der das weltweite Zentrum des Judentums war, war es nicht so einfach, Juden mit abweichender Meinung auszusperren, da es damals doch sehr unterschiedliche Richtungen des Judentums gab. Im überschaubaren Rahmen einer Synagoge war das einfacher. Es spricht nichts dagegen, dass es auf lokaler Ebene in Jerusalem unter den „Hebräern“ eine derartige Sanktion gegen Jünger Jesu gab.

Der Mut und die Entschlossenheit der Apostel wurden dadurch nicht geschmälert. Der Hauptort ihrer Verkündigung in Jerusalem war der Tempel.

Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben. (Apostelgeschichte 4,20)

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