Wer sich mit der Entstehung des Kanons des Alten Testaments beschäftigt, wird auf die Behauptung stoßen, dass erst nach der Zerstörung Jerusalems von einer jüdischen Versammlung festgelegt wurde, welche Bücher zum Alten Testament gehören. Das sei um das Jahr 90 n. Chr. in der Stadt Jamnia oder Jabne (ca. 22 km südlich von Tel Aviv) geschehen. Diese Behauptung wird auch in katholischen Kreisen gerne verbreitet, weil man darin eine Rechtfertigung dafür sieht, dass die Kirche festlegen kann, welche Bücher zum Alten Testament gehören. Wenn die Juden erst nach Christus und nach dem Entstehen der Kirche den Kanon festgelegt haben, dann ist diese Entscheidung für Christen nicht bindend. Somit wird die Entscheidung des Konzils von Trient (Dekret Sacrosancta Oecumenica vom 8. April 1546) gerechtfertigt, sieben Bücher in den Kanon aufzunehmen, die von den Juden nicht zum Alten Testament gezählt werden.
Der Gedanke, dass der Kanon erst damals abgeschlossen wurde, geht auf Heinrich Graetz zurück, der aber auch nicht ausdrücklich behauptete, dass damals der Kanon abgeschlossen wurde. Er sah den endgültigen Abschluss des Kanons erst mit der Redaktion der Mischnah gegeben:1
Man kann also sagen, dass der Kanon endgültigst mit der Redaction der Mischnah (189) und durch ihre Autorität abgeschlossen wurde.
Da Graetz vorschlug, dass das Buch Kohelet erst in herodianischer Zeit geschrieben wurde, wollte er den Kanon möglichst spät abgeschlossen haben, wie er selbst schreibt:2
Mir liegt es ob, es so evident als möglich zu machen, dass der Abschluss des Kanon sehr spät, und zwar von einer autoritären Behörde ausgegangen, stattgefunden hat, weil dadurch meine Annahme, dass Kohélet in der herodianischen Zeit entstanden ist, an Festigkeit gewinnt.
Die Theorie von Graetz hat sich daraufhin verbreitet, wurde aber auch bestritten.
J. P. Lewis hat 1964 seine Gegenargumente dargelegt.3 Dieser Artikel ist mir nicht zugänglich. Er hat seine Argumente aber später in einem weiteren Artikel wiederholt.4 Ich fasse seine Gedanken zusammen.
Es gab in Jamnia keine „Synode“ oder kein „Konzil“. Es ist besser, von einer „Versammlung“, einem „Hof“ oder einer „Schule“ zu sprechen. (Im deutschen Sprachraum ist auch von einer „Akademie“ die Rede.) Ein genaues Datum kann nicht festgelegt werden. Roger Beckwith5 schlug eine Spanne zwischen 75 und 112 vor.
Wir wissen über die Versammlung oder Schule in Jamnia nur aus jüdischen Quellen. Die wichtigste Stelle dazu ist Mischnah Yadayim 3,5:
Alle heiligen Schriften verunreinigen die Hände. Das Hohelied und Kohelet verunreinigen die Hände. R. Jehuda sagt: Das Hohelied verunreinigt die Hände, aber bezüglich Kohelet’s ist ein Streit. R. Jose sagt: Kohelet verunreinigt die Hände nicht, aber bezüglich des Hohenliedes ist ein Streit. R. Simon sagt: Kohelet gehört zu den erleichternden Erscheinungen der Bet Schammai und den erschwerenden der Bet Hillel. Es sagte R. Simon ben Asai: Ich habe eine Überlieferung von 72 Ältesten vom Tage, da man R. Elasar ben Asarja (zum Vorsitzenden) der Akademie einsetzte, dass das Hohelied und Kohelet die Hände verunreinigen (und dass) R. Akiba sagte: „Gott bewahre ! Niemand in Israel hat über das Hohelied gestritten, dass es etwa die Hände nicht verunreinige, denn die ganze Welt ist nicht des Tages würdig, an dem das Hohelied Israel gegeben wurde; denn alle Hagiographen sind heilig, aber das Hohelied ist hochheilig“. Wenn sie also stritten, so stritten sie nur über Kohelet. Da sagte R. Jochanan, Sohn Josuas des Sohnes des Schwiegervaters R. Akibas: So wie Ben Asai sagt, so stritten sie und entschieden sie.
Der eigenartige Ausdruck „sie verunreinigen die Hände“ bedeutet in diesem Zusammenhang: sie sind kanonisch. Zum Ursprung dieser Terminologie gibt es verschiedene Gedanken, auf die ich hier nicht eingehe. Die Bedeutung steht aber außer Zweifel. Es geht darum, ob Bücher zur Heiligen Schrift gehören oder nicht. Es gab verschiedene Überlieferungen, ob nur die Kanonizität von Kohelet oder auch die Kanonizität des Hohelieds zur Diskussion standen. Beide Bücher wurden als kanonisch akzeptiert.
Es gibt keinen Text, der darüber spricht, dass in Jamnia darüber diskutiert wurde, ob apokryphe Bücher zum Kanon gehören sollten oder nicht.
Die Behauptung, die christlichen Evangelien seien in Jamnia ausgeschlossen worden, ist zurückzuweisen. (Das stand nicht zur Diskussion.)
Mit Gewissheit kann den Quellen nur entnommen werden, dass in Jamnia über das Buch Kohelet diskutiert wurde, möglicherweise auch über das Hohelied. Diese Diskussion bedeutet aber nicht, dass der Kanon nicht schon zuvor abgeschlossen worden war. Manche Fragen können sich immer wieder neu stellen. So wird bezüglich des neutestamentlichen Kanons allgemein angenommen, dass dieser seit dem 4. Jahrhundert allgemein akzeptiert war. Dennoch hat Martin Luther im 16. Jahrhundert die Kanonizität von vier Büchern (Hebräerbrief, Jakobus, Judas, Offenbarung) erneut infrage gestellt. Man darf daraus nicht den Schluss ziehen, dass der neutestamentliche Kanon bis ins 16. Jahrhundert unklar war. Wenn gegen Ende des 1. Jahrhunderts unter jüdischen Rabbis die Frage diskutiert wurde, ob Kohelet zur Heiligen Schrift gehört, bedeutet das nicht automatisch, dass das zuvor nicht klar war. Der Inhalt dieses Buches unterscheidet sich in mancher Hinsicht so sehr von anderen Büchern, dass diese Frage immer wieder gestellt werden kann.
Die Einleitung des Übersetzers des Buches Sirach aus dem späten 2. Jahrhundert vor Christus setzt voraus, dass der Kanon bereits als eine feste Größe gegeben war, von der das Buch Jesus Sirach klar unterschieden wurde. Mehr dazu siehe hier. Der Schreiber des Vorworts nennt zwar nicht alle Bücher des Kanons namentlich, sondern erwähnt nur die drei Gruppen (Thora, Propheten, übrige Schriften). Dadurch, dass er das von seinem Großvater verfasste Weisheitsbuch auch von der dritten Gruppe unterscheidet, dürfte für ihn auch diese Gruppe schon abgeschlossen gewesen sein.
Flavius Josephus schrieb zwischen 93 und 95 sein Werk „Gegen Apion“. In 1,7f schreibt er:6
[…] Daraus folgt, sage ich, dass wir nicht Myriaden von widersprüchlichen Büchern besitzen, die sich gegenseitig widersprechen, sondern unsere Bücher, die, an die man mit Recht glaubt, sind nur 22 und enthalten die Aufzeichnungen aller Zeiten. Davon sind fünf die Bücher Mose, die die Gesetze und die überlieferte Geschichte von der Geburt des Menschen bis zum Tod Moses enthalten. Dieser Zeitraum umfasst nur knapp 3000 Jahre. Vom Tod Moses bis zu Artaxerxes, der Xerxes als König von Persien folgte, schrieben die Propheten nach Moses die Ereignisse ihrer eigenen Zeit in dreizehn Büchern nieder. Die übrigen vier Bücher enthalten Hymnen an Gott und Vorschriften für die Führung des menschlichen Lebens. Von Artaxerxes bis in unsere Zeit ist die gesamte Geschichte geschrieben worden, die jedoch nicht das gleiche Vertrauen genießt wie die früheren Aufzeichnungen, weil die genaue Abfolge der Propheten nicht eingehalten wurde.
Josephus hat die Schriften anders als unter den Juden üblich gruppiert. Für die dritte Gruppe hat er nur vier Bücher erwähnt, dafür aber der Gruppe der Propheten dreizehn Bücher zugeordnet. Dass er nur 22 Bücher statt der 24 Bücher kannte, lässt auf Verknüpfungen zweier Bücher mit anderen schließen.
Beckwith7 vermutet folgende Einteilung:
- Thora wie auch sonst: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium.
- 13 Propheten: Ijob, Josua, Richter (gemeinsam mir Rut?), Samuel, Könige, Jesaja, Jeremia (gemeinsam mit Klagelieder?), Ezechiel, Zwölf Propheten, Daniel, Chronik, Esra-Nehemia, Ester.
- Vier Bücher mit Hymnen und Vorschriften: Psalmen (gemeinsam mit Ruth?), Sprichwörter, Kohelet, Hohelied.
Für Josephus war der Kanon eine feststehende Größe. Die kanonischen Schriften gingen nur bis zur Zeit von Artaxerxes. Man gewinnt bei ihm nicht den Eindruck, dass der Kanon gerade erst zu seiner Zeit in Jamnia festgelegt worden ist. Die später von den Katholiken akzeptierten Apokryphen oder „deuterokanonischen Schriften“ waren für Flavius Josephus offenbar gar kein Thema.
Auch das Neue Testament zitiert als Heilige Schrift nur Schriften aus dem auch von den Juden akzeptierten Kanon, aber keines der „deuterokanonischen“ Bücher. Ebenso wenig erwähnt Melito von Sardes im 2. Jahrhundert in der ältesten christlichen Liste der Bücher des Alten Testaments diese Bücher.
Die im ausgehenden 1. Jahrhundert von jüdischen Rabbis geführte Diskussion über Kohelet und vielleicht auch das Hohelied besagt nichts darüber, wann der Kanon geschlossen war. Wir dürfen davon ausgehen, dass seit dem 2. Jahrhundert vor Christus der alttestamentliche Kanon grundsätzlich feststand, auch wenn über manche Bücher später noch diskutiert wurde.
Für Christen zählt, welche Bücher Jesus Christus als Heilige Schrift hatte und akzeptierte. Da er im Lande Israel weilte, hatte er wie seine Mitjuden den hebräischen Kanon der Schrift und nicht einen hypothetischen „alexandrinischen“ Kanon, von dem behauptet wird, dass er noch zusätzliche Schriften enthalten habe.
Nur die Schriften, die Jesus als Heilige Schrift akzeptierte, können auch für seine Nachfolger die Heilige Schrift des Alten Bundes sein.
14 Du aber bleibe bei dem, was du gelernt und wovon du dich überzeugt hast. Du weißt, von wem du es gelernt hast; 15 denn du kennst von Kindheit an die heiligen Schriften, die dich weise machen können zum Heil durch den Glauben an Christus Jesus. 16 Jede Schrift ist, als von Gott eingegeben, auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, 17 damit der Mensch Gottes gerüstet ist, ausgerüstet zu jedem guten Werk. (2 Timotheus 3,14-17)
- Heinrich Graetz, Kohélet, oder der Salomonische Prediger. Übersetzt und kritisch erläutert. Winter, Leipzig 1871, S. 166. ↩
- Heinrich Graetz, Kohélet, S. 149. ↩
- J. P. Lewis, What do we mean by Jabneh?: Journal of Bible and Religion, vol. 32 (1964), S. 125-132. ↩
- Jack P. Lewis, Jamnia after Forty Years: Hebrew Union College Annual, Vol. 70/71, One Hundred Twenty-Fifth Anniversary (1999-2000), S. 233-259. ↩
- Roger Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church and its Background in Early Judaism, London 1985, S. 276. ↩
- Nach Beckwith, S. 118-119, übersetzt mit deepl.com. ↩
- Beckwith, S. 119. ↩