Die Seligpreisungen bei Matthäus und Lukas

Die in Matthäus 5-7 überlieferte Bergpredigt findet in Teilen eine Parallele in Lukas 6,20-49. Dieser Abschnitt wird auch als „Feldrede“ bezeichnet, weil Jesus zuvor nach Lukas 6,17 von einem Berg in eine Ebene hinabgestiegen war.

Beide Texte beginnen mit den sogenannten Seligpreisungen.

1 Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf den Berg. Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm. 2 Und er öffnete seinen Mund, er lehrte sie und sprach:

3 Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
4 Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
5 Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben.
6 Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.
7 Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
8 Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen.
9 Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
10 Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich.
11 Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. 12 Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden nämlich schon vor euch die Propheten verfolgt. (Matthäus 5,1-12)


20 Er richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte:

Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.
21 Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden.
Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.
22 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausstoßen und schmähen und euren Namen in Verruf bringen um des Menschensohnes willen. 23 Freut euch und jauchzt an jenem Tag; denn siehe, euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den Propheten gemacht.

24 Doch weh euch, ihr Reichen; denn ihr habt euren Trost schon empfangen.
25 Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern.
Weh, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen.
26 Weh, wenn euch alle Menschen loben. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht. (Lukas 6,20-26)


Matthäus hat acht Seligpreisungen (oder neun, wenn man die Verse 10 und 11 nicht als eine einzige Seligpreisung sieht). Lukas hat vier kürzer formulierte Seligpreisungen, die von vier Weherufen gefolgt werden, die in Parallele zu den Seligpreisungen stehen. Bei Lukas spricht Jesus direkt seine Jünger an, auch die Weherufe sind als Anreden formuliert. Bei Matthäus heißt es: „Selig die …“ Nur in Vers 11 spricht Jesus die Jünger, die um seinetwillen verfolgt werden, direkt an.

Welches der beiden Evangelien bringt die ursprüngliche Version? Was hat Jesus wirklich gesagt?

Haben die Evangelisten aus einer Spruchquelle „Q“ geschöpft und den Stoff nach ihrem Gutdünken oder theologischem Konzept abgeändert?

Die Evangelien sprechen öfters davon, dass Jesus in verschiedenen Orten gelehrt hat, ohne den Inhalt der Lehre konkret zu erwähnen. Z. B.:

Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden. (Matthäus 4,23)

Jesus zog durch alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Leiden. (Matthäus 9,35)

Und es geschah in der folgenden Zeit: Er wanderte von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und verkündete das Evangelium vom Reich Gottes. Die Zwölf begleiteten ihn. (Lukas 8,1)

Die von Matthäus in der Bergpredigt und von Lukas in der Feldrede gesammelten Worte Jesu hat er in den verschiedenen Orten wohl immer wieder gelehrt und auch variiert. Es können daher beide Versionen problemlos auf Jesus zurückgeführt werden. Die Annahme, dass die Evangelisten einen ihnen vorliegenden Stoff bearbeitet hätten, erübrigt sich somit.

Wenn Jesus nach Lukas seine Jünger als „ihr Armen“ angesprochen hat, entsprach es dem, was er in der von Matthäus überlieferten Variante die „Armen im Geiste“ genannt hat. Die Jünger hatten sich um Jesu willen ganz von Gott abhängig gemacht und den Weg der Armut gewählt.

Die Jünger, die einen Hunger nach Gerechtigkeit hatten, waren in ihrem Einsatz für Gottes Reich auch bereit, mit ihrem Körper zu hungern.

Dass die nur von Lukas überlieferten Weherufe tatsächlich von Jesus gesagt wurden, sehen wir aus dem Jakobusbrief. Jakobus, der Bruder des Herrn, hat in seinem Brief immer wieder auf Worte Jesu, wie sie in der Bergpredigt überliefert worden sind, zurückgegriffen und sie neu formuliert. In Jakobus 5,1 schreibt er:

Ihr aber, ihr Reichen, weint nur und klagt über das Elend, das über euch kommen wird!

Er hat sich dabei offensichtlich auf das in Lukas 6,24 überlieferte Wort Jesu gestützt. Er kannte dieses Wort aber nicht aus dem Lukasevangelium, sondern aus der lebenden mündlichen Überlieferung. Vielleicht hat er es als noch nicht an Jesus glaubender kritischer Zuhörer selbst gehört.

Es ist wichtig, dass Lukas auch die Weherufe niedergeschrieben hat. In Parallele zu den Seligpreisungen hat Jesus in ihnen gezeigt, welche Gesinnung und welcher Lebensstil von Gott und seiner Herrschaft trennen. Der Maßstab muss immer der Wille Gottes sein, nicht die vergängliche Erfüllung, die irdische Güter, oberflächliche Freude oder Ehre vor den Menschen bieten.

So stehen die Seligpreisungen und Weherufe im Zusammenhang mit den Worten Jesu über die zwei Wege:

13 Geht durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und es sind viele, die auf ihm gehen. 14 Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und es sind wenige, die ihn finden. (Matthäus 7,13-14)

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