Die Prüfung Abrahams

1 Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm: Abraham! Er sagte: Hier bin ich. 2 Er sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar! (Genesis 22,1-2)

Die von Gott verlangte Opferung des Sohnes Abrahams ist für Juden, Christen und Muslime von Bedeutung. Für Muslime stellt diese Begebenheit den Hintergrund eines der beiden Hauptfeste des Islams, des Opferfestes, dar. Mehr dazu in einem eigenen Beitrag.

In Genesis 22,1 heißt es, dass Gott Abraham auf die Probe gestellt hat oder geprüft hat. Auch Sure 37,106 spricht von einer Prüfung.

[…] 104 riefen Wir ihm zu: „O Ibrahim, 105 du hast das Traumgesicht bereits wahr gemacht.“ Gewiß, so vergelten Wir den Gutes Tuenden. 106 Das ist wahrlich die deutliche Prüfung. (Sure 37,104-106)

Worin bestand diese Prüfung? Wie sollen wir uns das konkret vorstellen? Ist es möglich, dass Gott tatsächlich von seinem Diener ein Menschenopfer fordert?

Das hebräische Verb נָסָה / nāsāh hat die Bedeutung „prüfen, ausprobieren, versuchen“. Man könnte Genesis 22,1 auch so übersetzen, dass Gott Abraham versuchte.

Doch wird dieses Verständnis nicht nur vom Wesen eines guten Gottes her ausgeschlossen, sondern im Jakobusbrief heißt es ausdrücklich:

13 Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht. Denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, er selbst aber versucht niemand. 14 Ein jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird. 15 Danach, wenn die Begierde empfangen hat, bringt sie Sünde hervor; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod. (Jakobus 1,13-15, Elberfelder)

Abrahams Prüfung kann daher nicht so verstanden werden, dass Gott tatsächlich Abraham zur Tötung Isaaks bewegen wollte. Doch Abraham hat Gott zweifellos so verstanden. Nach dem biblischen Bericht und auch nach der koranischen Darstellung hat er sich auf den Weg gemacht, seinen Sohn zu opfern.

Abraham war bis in sein hohes Alter ein Sohn versagt. Als er sich auf Gottes Geheiß auf den Weg nach Kanaan machte, hatte er die Verheißung empfangen:

Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. (Genesis 12,2)

Doch der Sohn blieb aus. Seine unfruchtbare Frau Sarai schlug ihm vor, doch mit ihrer Magd Hagar einen Sohn zu zeugen, der dann als ihr Sohn gelten sollte (Genesis 16,1-4). Doch der aus dieser Verbindung geborene Ismael war nicht der Sohn, den Gott verheißen hatte. Eine menschliche „Lösung“ eines Problems ist nicht der Weg Gottes.

Als dem „hundertjährigen“ Abraham endlich der verheißene Isaak geschenkt wurde (Genesis 21,1-7), war die Freude groß. Und genau diesen Sohn, den ihm Gott verheißen hatte, sollte er nun töten?

Vielleicht war Abraham von Gott her klar geworden, dass sein Sohn Isaak nicht wichtiger werden durfte als Gott. Isaak war Gottes Geschenk. Der Schenkende soll im Zentrum stehen, nicht das Geschenk. So mag Abraham erkannt haben, dass er bereit sein muss, auf Isaak zu verzichten. Aus der Beschreibung Isaaks in Genesis 22,2 kann man entnehmen, dass Isaak für seinen Vater eine sehr große Bedeutung hatte:

Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak […]

Zuerst ist nur vom Sohn die Rede. Dann wird klar gemacht, dass es sein einziger Sohn ist (nämlich der einzige Sohn, der ihm von Gott verheißen wurde). Dann wird der Sohn als der von Abraham Geliebte charakterisiert und anschließend noch ausdrücklich beim Namen genannt. Der Sohn, in dem Abraham die Erfüllung seines Lebens sah, sollte geopfert werden.

Ich nehme an, dass Gott nicht genau das gesagt hat, was Abraham verstanden hat. Nach den Worten des Propheten Jeremia wollte Gott niemals Menschenopfer haben.

Auch haben sie die Kulthöhen des Tofet im Tal Ben-Hinnom gebaut, um ihre Söhne und ihre Töchter im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist. (Jeremia 7,31)

Also konnte Gott auch von Abraham kein Menschenopfer fordern. Gott wollte eine klare Setzung von Prioritäten. Abraham hat das vor dem Hintergrund damaliger Religionen so verstanden, dass er Isaak opfern sollte. Das wäre der größte Ausdruck seiner Ergebenheit zu Gott gewesen, wenn er Gott den von ihm geschenkten Sohn opferte.

Als Gott sah, dass Abraham tatsächlich bereit war, das Opfer durchzuführen, hat er ihn davor bewahrt.

Er sprach: Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten. (Genesis 22,12)

Gott wusste natürlich auch vorher schon, dass Abraham Gott fürchtet. Das Opfer bestätigte diese Gesinnung. Überhaupt geht es bei einer „Prüfung“ durch Gott nicht darum, dass Gott etwas erfährt, sondern es geht um den „Geprüften“. Er soll durch die Prüfung sich selbst besser erkennen und im Glauben wachsen.

Nach den Worten des Hebräerbriefs hat Abraham Isaak tatsächlich dargebracht.

17 Durch Glauben hat Abraham, als er geprüft wurde, den Isaak dargebracht, und er, der die Verheißungen empfangen hatte, brachte den einzigen ⟨Sohn⟩ dar, 18 über den gesagt worden war: »In Isaak soll deine Nachkommenschaft genannt werden«, 19 indem er dachte, dass Gott auch aus den Toten erwecken könne, von woher er ihn auch im Gleichnis empfing. (Hebräer 11,17-19, Elberfelder)

Auch wenn er ihn nicht getötet hat, so hat er seinen einzigen Sohn so völlig losgelassen, dass man das so verstehen kann, dass er Isaak tatsächlich dargebracht hat. Die Bewahrung des Sohns kam einer Auferweckung gleich. Der Autor des Hebräerbriefs versuchte das Dilemma zwischen der Verheißung einer großen Nachkommenschaft und dem geforderten Opfer so zu lösen, dass Abraham an die Auferweckung gedacht habe. Auf jeden Fall war die Situation für Abraham, der einerseits die Verheißung einer großen Nachkommenschaft hatte, andererseits auch Gott so verstanden hatte, dass er seinen Sohn, durch den die Nachkommenschaft kommen sollte, opfern sollte, nicht einfach.

Von einem späteren Blickwinkel heraus können wir die Frage stellen, warum Abraham nicht klar war, dass ein Menschenopfer falsch ist und warum er den Auftrag, seinen Sohn zu opfern, nicht schon aus dem Grund infrage gestellt hat, weil Isaak doch der Sohn der Verheißung war? Aber vielleicht unterschätzen wir die religiöse Prägung, die Abraham trotz seiner Hinwendung zum einen und wahren Gott von seiner Umgebung empfangen hatte.

Ich neige dem Verständnis zu, dass es sich bei Abraham nur um einen inneren Kampf gehandelt habe. Es wurde ihm von Gott her klar, dass er bereit sein musste, auf seinen geliebten Isaak zu verzichten. So hatte er den Gedanken, seinen Sohn als Brandopfer darzubringen. Doch dann hat ihm Gott, der seine Bereitschaft gesehen hat, offenbart, dass er dieses Menschenopfer nicht will. Diesen inneren Kampf könnte Abraham dann in Form der Erzählung von Genesis 22 ausformuliert haben. Wenn man sich vorstellt, welche Auswirkung das auf Isaak, der damals kein kleines Kind mehr war, hatte, wenn er erleben musste, dass sein Vater ihn töten wollte, ist man geneigt, anzunehmen, dass sich das nicht in der Wirklichkeit abgespielt hat.

Gegen diese Erklärung spricht allerdings, dass auch die Autoren des Neuen Testaments davon ausgehen, dass Abraham seinen Sohn Isaak tatsächlich auf den Opferaltar gelegt hat. Neben dem bereits zitierten Hebräerbrief heißt es im Jakobusbrief:

21 Abraham, unser Vater, wurde er nicht aus den Werken als gerecht anerkannt, als er seinen Sohn Isaak auf den Opferaltar legte? 22 Du siehst, dass der Glaube mit seinen Werken zusammenwirkte und dass der Glaube aus den Werken zur Vollendung kam. 23 So hat sich das Wort der Schrift erfüllt: Abraham glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet und er wurde Freund Gottes genannt. (Jakobus 2,21-23)

Jakobus nannte das sogar ein Werk des Glaubens. Er hat Genesis 22 offensichtlich als ein tatsächliches Geschehen verstanden. Doch konnte auch er nur von dem geschriebenen Text des Alten Testaments ausgehen.

Wie immer es gewesen sein mag, hat Abraham gezeigt, dass ihm Gott wichtiger war als sein geliebter Sohn. Gott aber hat ihm und allen Menschen gezeigt, dass er keine Menschenopfer will. Er will aber der Mittelpunkt in unserem Leben sein.

Gott hat in Jesus Christus das getan, was er von Abraham nicht verlangt hat. Er hat seinen Sohn für alle Menschen dahingegeben. Nicht weil Gott das Opfer brauchte, sondern weil wir die Liebe Gottes brauchen, die er uns in seinem Sohn schenkt.

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. (Johannes 3,16)

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