15 Als nun die Hohepriester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder im Tempel rufen hörten: Hosanna dem Sohn Davids!, da wurden sie ärgerlich 16 und sagten zu ihm: Hörst du, was sie rufen? Jesus antwortete ihnen: Ja. Habt ihr nie gelesen: Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob? (Matthäus 21,15-16)
Diese nur von Matthäus berichtete Begebenheit ereignete sich, nachdem Jesus den Tempel gereinigt und dort Lahmen und Blinde geheilt hatte. Jesus antwortete auf die Worte der Hohepriester und Schriftgelehrten mit einem Zitat aus Psalm 8. Doch schlägt man dieses Wort im Alten Testament nach, stößt man auf eine andere Version:
Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge hast du ein Bollwerk errichtet wegen deiner Gegner, um zum Einhalten zu bringen Feind und Rächer. (Psalm 8,3)
Das von der Einheitsübersetzung mit „Bollwerk“ wiedergegebene Wort עֹז /ʿōs hat die Grundbedeutung „Kraft, Stärke, Macht“. Von dieser Grundbedeutung kann auch die Bedeutung „Bollwerk“ abgeleitet werden, das einen befestigten Ort gegen die Angriffe eines Feindes darstellt.
Im Matthäusevangelium wird der Vers nach der Septuaginta zitiert, der seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert erstellten griechischen Übersetzung des Alten Testaments. Dort steht das Wort αἶνος / aínos, das „Lob“ bedeutet.
Es kommt oft vor, dass das Alte Testament im Neuen Testament nach der Septuaginta zitiert wird. Wenn es bereits eine Übersetzung gibt, ist es einfacher, sich an die bereits vorhandene Übersetzung zu halten, als den Text direkt aus dem Hebräischen zu übersetzen.
In Matthäus 21,16 ist die Lage aber etwas anders. Im Zusammenhang passt die Übersetzung mit „Lob“ gut, mit „Bollwerk“ oder „Kraft“ aber weniger gut.
Sollen wir annehmen, dass Jesus in der Situation den Psalm auf Griechisch zitiert hat? Dieser Vorschlag existiert. Da anlässlich des Paschafestes viele Festpilger aus verschiedensten Ländern und Gebieten außerhalb Israels zusammenkamen, fand ein Großteil der Kommunikation auf Griechisch statt. Um von vielen Menschen verstanden zu werden, konnte Jesus den Psalm auf Griechisch zitiert haben.
Ich bezweifle nicht, dass Jesus zumindest Grundkenntnisse der griechischen Sprache hatte. Aber dem Text bei Matthäus kann nicht entnommen werden, dass das Gespräch zwischen den jüdischen Führern und Jesus vor einer großen Menschenmenge stattgefunden hat. Außerdem müssten in diesem Fall auch die Hohepriester auf Griechisch gefragt haben, was ich nicht erwarte. Die Lösung, dass Jesus Psalm 8 nach der Septuaginta zitiert haben könnte, ist unwahrscheinlich.
Sollen wir annehmen, dass Jesus diese Worte gar nicht gesagt hat, sondern dass der Evangelist sie ihm in den Mund gelegt hat, um kurz vor den letzten Tagen Jesu ein besonderes Lob Jesu durch Kinder unterzubringen? Die kleinen Kinder preisen Jesus, während die Schriftgelehrten die Schrift nicht verstehen, die auf Jesus hinweist, und ihn zu Tode bringen. So oder ähnlich könnte der Gedankengang eines modernen Theologen sein. Dabei habe der Evangelist aber nicht bedacht, dass der hebräische Text, den Jesus in der Situation angeführt hätte, anders lautet als der vom Evangelisten verwendete griechische Text. Die Lösung, dass ein Wort oder eine Situation nicht ursprünglich sei, sondern aus einer späteren Zeit stamme, ist unter Theologen beliebt, aber auch bequem. Dieser Ansatz vernachlässigt, dass die ersten Jünger eine Hochachtung vor den Worten Jesu hatte und sich davor gescheut haben, einfach neue Jesusworte zu erfinden.
Der uns heute vorliegende hebräische Text des Alten Testaments ist nur aus nachchristlichen Dokumenten bekannt. Der allgemein verwendete Masoretentext, in welchem dem ursprünglich nur aus Konsonanten bestehenden Text auch Vokalzeichen zugeordnet wurden, ist erst gegen Ende des 1. Jahrtausends n. Chr. erstellt worden. Grundsätzlich waren die Masoreten aber sehr exakt und haben nicht einfach etwas geändert. Sie wollten den alten Text möglich genau erhalten.
Die Septuaginta wurde bereits in vorchristlicher Zeit erstellt und lag zur Zeit der Niederschrift des Neuen Testaments vor. Die heute existierenden Handschriften stammen zum größten Teil allerdings aus nachchristlicher Zeit.
Wenn die Übersetzer der Septuaginta in Psalm 8,3 das Wort „Lob“ verwendeten, ist zu erwarten, dass der hebräische Text, den sie verwendeten, an der Stelle ein Wort enthielt, das mit „Lob“ übersetzt werden konnte. Im Zusammenhang des Verses passt das Wort „Lob“ auch besser. Dass aus dem Mund der Kinder und Säuglinge Lob kommt, ergibt einen besseren Sinn als ein Bollwerk, das aus ihrem Mund kommen sollte. Zum zweiten Teil des Verses würde „Bollwerk“ oder „Macht“ aber gut passen:
[…] wegen deiner Gegner, um zum Einhalten zu bringen Feind und Rächer.
Man kann den Vers auch so verstehen, dass das Lob der kleinen Kinder die Gegner beschämt.
Wenn den Übersetzern der Septuaginta ein hebräischer Text vorlag, in dem vom Lob aus dem Mund der Kinder die Rede war, dann konnte dieser hebräische Text auch der Text sein, den sowohl Jesus als auch die Schriftgelehrten kannten. So ist es durchaus möglich, dass Jesus den Psalm auf Hebräisch mit demselben Inhalt zitiert hat, den auch die Septuaginta enthält.
Die Frage, warum der Masoretentext anders lautet, müsste noch geklärt werden. An manchen Stellen, die von Christen wiederholt zitiert wurden, besteht leider der starke Verdacht, dass die Masoreten den Text bewusst abgeändert haben, obwohl sie in der Regel sehr exakt gearbeitet haben.
Ein Beispiel dafür ist Psalm 22,17b:
Sie haben mir Hände und Füße durchbohrt.
Im Masoretentext heißt es:
Wie der Löwe – meine Hände und meine Füße.
Im Zusammenhang ergibt diese Version keinen rechten Sinn. Daher besteht hier der Verdacht einer antichristlichen Änderung des Textes.
Möglicherweise liegt bei Psalm 8,3 ein ähnlicher Fall vor. Doch möchte ich hier kein vorschnelles Urteil fällen. Die Textgeschichte ist vielleicht komplizierter, als dass man als Erstes an eine bewusste Abänderung denken müsste.
Dass Jesus den hebräischen Text kannte und verwendete, der auch der Septuaginta vorlag, ist aber sehr gut möglich.
Nach dem Wörterbuch von Gesenius hatte das Wort עֹז /ʿōs auch die Nebenbedeutung „Verherrlichung, Lobpreis, Ruhm“. Als Belegstellen werden Psalm 29,1; 96,7; 1 Chronik 16,28 für die Wendung כָּבֹ֥וד וָעֹֽז / kabod waʿōs („Ehre und Ruhm“) angeführt. Die Einheitsübersetzung lautet an diesen Stellen jeweils „Ehre und Macht“. Als weitere Belege für diese Bedeutung werden noch Ps 68,35a (Einheitsübersetzung: Macht); Exodus 15,2; Jesaja 12,2 und Psalm 118,14 (Einheitsübersetzung jeweils: meine Stärke und mein Lied) genannt. Die Septuaginta hat an keiner dieser Stellen das Wort עֹז /ʿōs mit αἶνος / aínos übersetzt. Für mich ist fraglich, ob das sonst mit „Macht“ oder „Bollwerk“ übersetzte Wort in Psalm 8,3 die Bedeutung „Lobpreis“ hatte. Man kann es aber auch nicht völlig ausschließen. Das würde die Masoreten vom Vorwurf einer nachträglichen Textänderung freisprechen.
Klar dürfte aber sein, dass es keinen Grund gibt, zu bezweifeln, dass Jesus diese Worte tatsächlich so wie es im Matthäusevangelium steht, gesprochen hat. Entweder hat er denselben hebräischen Text wie die Masoreten und diesen als „Lob“ verstanden. Deswegen hatte Matthäus kein Problem, den Psalmvers nach der Septuaginta zu zitieren. Oder, was ich für wahrscheinlicher halte, hatte er einen anderen hebräischen Text, der aber mit der Septuaginta-Vorlage identisch war.
Unabhängig von der Frage, welchen Text Jesus hatte, gibt es noch eine wichtige inhaltliche Beobachtung.
Im Psalm geht es um das Lob Gottes, das aus dem Mund der Kinder kommt. Im Zusammenhang von Matthäus haben die Kinder Jesus als den Sohn Davids, den Messias, gelobt. Wenn nun Jesus einen Vers, der vom Lob Gottes spricht, auf sich bezieht, erhebt er dann nicht den Anspruch, auf einer Ebene mit Gott zu stehen?
Das Lob der Kinder, die nur ein sehr begrenztes Wissen über Jesus hatten, ist eine Einladung an alle, ihn mit dem ganzen Leben zu loben und zu verherrlichen. Wir dürfen viel mehr über ihn wissen als diese Kinder.
Sie riefen mit lauter Stimme: Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, Macht zu empfangen, Reichtum und Weisheit, Kraft und Ehre, Lob und Herrlichkeit. (Offenbarung 5,12)