Menschensatzungen

7 Ihr Heuchler! Treffend hat der Prophet Jesaja über euch gesagt: 8 Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. 9 Vergeblich verehren sie mich; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen. (Matthäus 15,7-9)

Jesus hat diese Worte in einem Gespräch mit Pharisäern und Schriftgelehrten gesagt, die vermutlich nur deswegen aus Jerusalem nach Galiläa gekommen waren, um ein kritisches Auge auf Jesus und seine Jünger zu werfen.

Sie bemerkten, dass sich die Jünger vor dem Essen nicht die Hände gewaschen hatten. Ihr Kritikpunkt war aber nicht die mangelnde Hygiene, sondern die Übertretung der Überlieferungen der Alten.

In seiner Antwort wies Jesus darauf hin, dass für die Schriftgelehrten die Überlieferungen der Alten wichtiger waren als Gottes Gebote.

3 Er entgegnete ihnen: Warum übertretet denn ihr Gottes Gebot um eurer Überlieferung willen? 4 Gott hat doch gesagt: Ehre Vater und Mutter! und: Wer Vater oder Mutter schmäht, soll mit dem Tod bestraft werden. 5 Ihr aber meint: Wer zu Vater oder Mutter sagt: Was ich dir schulde, sei eine Opfergabe!, 6 der braucht seinen Vater oder seine Mutter nicht mehr zu ehren. Damit habt ihr Gottes Wort um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt. (Matthäus 15,3-6)

In der Erklärung von Strack und Billerbeck1 heißt es dazu:

Man versteht diese Wendung meist so, daß der Sohn durch sie das dem Vater oder der Mutter Zustehende als Opfergabe dem Heiligtum geweiht habe, um es so den empfangsberechtigten Eltern zu entziehen. Das letztere ist richtig: die Eltern sollen ihrer Subsistenzmittel beraubt werden; aber unrichtig ist, daß dieser Zweck durch Umwandlung der Bezüge der Eltern in eine Weihegabe an den Tempel erreicht worden sei. Dieser Zweck wurde viel billiger erreicht: Der Sohn erklärte einfach in der Form eines Gelöbnisses, daß jeder Genuß, den die Eltern von ihm haben könnten, für sie wie eine Opfergabe sein solle, dann war ihnen jeder Nießbrauch am Vermögen des Sohnes ebenso versagt, wie es jedermann verboten war, von einer Opfer- oder Weihegabe an den Tempel irgendwelchen Nutzen zu haben. Der Sohn behielt auf diese Weise das Seine, ohne irgend etwas an den Tempel abgeben zu müssen, u. die Eltern waren ihrer Ansprüche an den Sohn beraubt.

In diesem Fall war im Rahmen der „Überlieferung der Alten“ ein Gelübde, das in sich unmoralisch war, wichtiger als das Gebot Gottes, die Eltern zu ehren, was auch bedeutete, für die Eltern im Alter zu sorgen. Im Grunde handelte es sich um religiös begründeten Diebstahl oder Betrug.

Das von Jesus angeführte Jesaja-Zitat war in dieser Situation voll und ganz angebracht.

Der Herr sagte: Weil dieses Volk sich mir mit seinem Mund näherte und mich mit seinen Lippen ehrte, sein Herz aber fernhielt von mir und weil ihre Furcht vor mir zu einem angelernten menschlichen Gebot wurde, […] (Jesaja 29,13)

Im Zusammenhang von Jesaja 29, in dem Muslime manchmal eine Ankündigung von Mohammed sehen wollen, wird keine konkrete Überlieferung genannt, die getadelt wird. Es muss nicht um Traditionen gegangen sein, die den Geboten Gottes so offensichtlich widersprechen, wie es das von Jesus genannte Gelübde tat. Jesaja sprach die geistliche Blindheit seiner Zeitgenossen an. Wenn sich jemand gegen den Willen Gottes verschließt und seine Gebote missachtet, liegt die Suche nach religiösen Regeln, an denen man sich festhalten kann, sehr nahe. Es geht um Frömmigkeit, die den Blick auf das Wesentliche verloren hat und so dem Egoismus Raum gibt. Durch Befolgung von menschengemachten Regeln findet man Bestätigung vor sich selbst, aber nicht vor Gott.

Diese Gefahr gab es nicht nur zur Zeit Jesajas oder unter den Zeitgenossen Jesu. Es handelt sich um eine grundsätzliche Gefahr für einen religiösen Menschen. In katholischen Ordensregeln etwa wird der Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus religiös durchstrukturiert. Man findet ein Gerüst von Regeln, die herausfordernd sein können, aber jemanden deswegen noch nicht Gott näher bringen. In ähnlicher Weise bietet einem Muslim das Einhalten der fünf täglichen Gebetszeiten und des Fastens im Ramadan eine Struktur, die Disziplin und vermutlich manchmal auch Überwindung erfordert. Durch das Einhalten dieser Regeln kann man seine religiöse Leistung sehen und trotzdem ganz blind sein für den Willen Gottes. Aber auch unabhängig von diesen durch Religionsgemeinschaften angebotenen oder von ihnen verlangten Regeln kann man Gefahr laufen, sich selbst Regeln aufzuerlegen, die wichtiger werden als Gott.

Für die Jünger Jesu war wichtig, bei ihrem Herrn zu sein und von ihm zu lernen. Dafür waren sie bereit, ihr früheres Leben hinter sich zu lassen. Jesus hat sie keine Rituale wie das Händewaschen gelehrt. Er hat ihnen seine Liebe geschenkt, die ihr Wesen von Grund auf umgestaltet hat. So wurden sie befähigt, Gottes Willen zu tun, in seiner Liebe zu leben, ganz unabhängig und frei von Satzungen von Menschen.


  1. Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch von Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, München 1922, S. 711. 

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