Calvin über den Sündenfall

Johannes Calvin hat in seinem Hauptwerk Institutio Christianae Religionis (Unterweisung in der christlichen Religion) auf unterschiedliche Weise über den freien Willen Adams bei seinem Fall geschrieben.

In 1,15,81 schreibt er:

In dieser ursprünglichen Reinheit war der Mensch im Besitz des freien Willens, so daß er das ewige Leben erlangen konnte, wenn er wollte. An dieser Stelle die Frage nach der verborgenen Prädestination Gottes zu stellen, wäre voreilig; denn es handelt sich hier nicht darum, was geschehen konnte und was nicht, sondern wie die Natur des Menschen tatsächlich beschaffen war. Adam konnte also in seiner ursprünglichen Unschuld bestehen, wenn er wollte; denn er fiel ja nur durch seinen eigenen Willen. Da allerdings sein Wille in jeder Richtung sich neigen konnte und ihm die Beständigkeit zur Beharrung nicht gegeben war, deshalb fiel er so leicht. Trotzdem, seine Entscheidung über Gut und Böse war frei, und nicht nur dies: in Verstand und Willen herrschte vollkommene Rechtschaffenheit, und alle sinnlichen Fähigkeiten waren fein zum Dienst eingerichtet — bis er sich selber verdarb und darüber seine Vorzüge verlor.

An dieser Stelle hat Calvin daran festgehalten, dass der erste Mensch durch seinen eigenen Willen gefallen ist.

Ganz anders hat er allerdings im dritten Buch desselben Werkes geschrieben.

Wie ist es denn gekommen, daß Adams Fall rettungslos so viele Völker samt ihren unmündigen Kindern in den ewigen Tod verwickelt hat? Gibt es einen anderen Grund, als daß es Gott so wohlgefallen hat? Hier müssen jene sonst so geschwätzigen Zungen verstummen. Es ist zwar ein furchtbarer Ratschluß, das gebe ich zu; aber dennoch wird niemand leugnen können, daß Gott, bevor er den Menschen schuf, zuvor gewußt hat, welchen Ausgang er nehmen würde, und daß er dies eben darum vorauswußte, weil er es in seinem Ratschluß so bestimmt hatte! Wer hier gegen Gottes Vorherwissen losfahren will, der rennt vorwitzig und unbedacht an. Denn aus was für einem Grunde, frage ich, soll der himmlische Richter der Anklage unterliegen, weil er wohl wußte, was eintreten würde? Alles, was man an rechtmäßiger oder scheinbarer Klage vorbringen mag, richtet sich doch gegen seine Vorbestimmung. Es darf auch nicht widersinnig erscheinen, wenn ich behaupte: Gott hat den Fall des ersten Menschen und in ihm das Verderben seiner Nachfahren nicht bloß vorhergesehen, sondern auch nach seinem Gutdünken angeordnet. Denn wie es zu seiner Weisheit gehört, daß er alles Zukünftige zuvor weiß, so zu seiner Macht, alles mit seiner Hand zu regieren und zu leiten! (Aus Calvin, Institutio 3,23,7)

Der erste Mensch ist nämlich gefallen, weil Gott es für nützlich hielt; warum er es dafür hielt, ist uns nicht bekannt. Dennoch ist es sicher, daß er es aus keinem anderen Grund getan hat, als weil er sah, daß so die Ehre seines Namens mit Recht verherrlicht würde. Wo du aber Gottes Ehre nennen hörst, da denke auch an seine Gerechtigkeit. Denn das, was Lobpreis verdient, muß gerecht sein! Der Mensch kommt also zu Fall, weil Gottes Vorsehung es so ordnet – aber er fällt durch seine eigene Schuld! Kurz zuvor hatte der Herr kundgetan, alles, was er gemacht hatte, sei „sehr gut“ (Gen. 1,31). Woher kommt denn dem Menschen solche Bosheit, daß er von seinem Gott abfällt? Es sollte niemand meinen, sie stamme aus der Schöpfung; deshalb hatte Gott das, was von ihm selbst ausgegangen war, durch eigenen Lobspruch gutgeheißen. Der Mensch hat also in eigener Bosheit die reine Natur verderbt, die er von dem Herrn empfangen hatte und zog durch seinen Fall auch seine ganze Nachkommenschaft mit sich ins Verderben! Deshalb sollen wir an der verderbten Natur des Menschengeschlechts die offenkundige Ursache der Verdammnis anschauen, die uns näher liegt – statt eine verborgene und tiefst unbegreifliche in Gottes Vorbestimmung zu suchen! Wir wollen es uns auch nicht verdrießen lassen, unseren Verstand Gottes unermeßlicher Weisheit so gar zu unterwerfen, daß er unter ihren vielen Geheimnissen zusammenbricht! Denn gegenüber dem, was zu wissen uns nicht gegeben ist und nicht gebührt, ist Nichtwissen etwas Gelehrtes, Trachten nach Wissen aber eine Art Wahnsinn! (Aus Calvin, Institutio 3,23,8)

Im Abschnitt 8 tritt die Widersprüchlichkeit der Argumentation Calvins ans Licht. Einerseits ist der Fall von Gott angeordnet, andererseits ist er doch die Schuld des Menschen, der in seiner Bosheit die reine Natur, die er von dem Herrn empfangen hatte, verderbt hat. Letztlich konnte er nur feststellen, dass sein Verstand zusammenbricht. Ein Gott, der aus Liebe dem Menschen Freiheit schenkt, passte nicht in sein Denken. So konnte er nicht anders, als auch den Sündenfall dem Ratschluss Gottes zuzuschreiben. Er wollte dadurch vordergründig Gott die Ehre geben, hat ihn aber durch seine Lehre auf das Schlimmste gelästert.

Auch auf ihn trifft das Wort von Paulus zu:

Denn euretwegen wird unter den Heiden der Name Gottes gelästert, wie geschrieben steht. (Römer 2,24)

 


  1. Übersetzung von Otto Weber (1936-38). 

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