Im 2. Kapitel seines ersten Briefs an die Gemeinde von Thessalonich schreibt Paulus:
14 Denn, Brüder, ihr seid dem Beispiel der Gemeinden Gottes in Judäa gefolgt, die in Christus Jesus sind. Ihr habt von euren Mitbürgern das Gleiche erlitten wie jene von den Juden. 15 Diese haben Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen; 16 sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen. Dadurch machen sie unablässig das Maß ihrer Sünden voll. Aber der ganze Zorn ist schon über sie gekommen. (1 Thessalonicher 2,14-16)
Besonders in den Versen 15 und 16 scheint Paulus ganz allgemein über alle Juden mit extrem negativen Worten zu schreiben. War Paulus somit der Begründer der in der Kirchengeschichte immer wieder anzutreffenden Judenfeindschaft, die etwa bei Martin Luther einen negativen Höhepunkt fand. Gibt es somit vielleicht sogar eine Linie, die von Paulus zu den Gräueln der Nationalsozialisten führt?
Über den Zusammenhang dieser Stelle
Es ist immer gut, darauf zu achten, in welchem Zusammenhang schwer verständliche oder auf den ersten Blick schockierende Worte stehen.
Im zweiten Kapitel des Briefes erinnert Paulus die junge Christengemeinde von Thessalonich an die noch nicht lange zurückliegende Zeit, als er bei ihnen war und durch seine Verkündigung die Gemeinde entstand. Über die Verkündigung in Thessalonich lesen wir auch in Apostelgeschichte 17,1-10. Paulus musste die Stadt aufgrund einer von den Juden – damit sind konkret die Führer der örtlichen Synagoge von Thessalonich gemeint – initiierten Verfolgung verlassen. Als Paulus dann in Beröa (etwas über 60 km entfernt) in der dortigen Synagoge auf interessierte Zuhörer stieß, wurde auch dort von den jüdischen Führern aus Thessalonich zum Nachteil des Paulus interveniert (Apostelgeschichte 17,10-14), sodass Paulus auch diese Stadt verlassen musste und schließlich über Athen nach Korinth gelangte, von wo aus er den Brief an die junge Gemeinde schrieb.
In 1 Thessalonicher 2,1-13 schreibt Paulus zuerst über die Zeit der Verkündigung in Thessalonich. Interessanterweise erwähnt er seine eigene Verfolgung nicht, wohl aber ab Vers 14 darüber, dass die Gemeinde in Thessalonich verfolgt wurde. Er vergleicht ihr Los mit dem der Urgemeinde in Jerusalem, die schon sehr früh eine schwere Verfolgung von den dortigen religiösen Autoritäten erfahren musste, an der auch Paulus vor seiner Bekehrung entscheidend mitgewirkt hatte.
Paulus ging es hier nicht darum, zum Hass auf die Juden aufzustacheln, sondern darum, die Leiden und die Verfolgung der jungen Gemeinde in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Die Thessalonicher erdulden dasselbe Los, das bereits die ersten Christen, die allesamt Juden waren, von Seiten der jüdischen Obrigkeit Jerusalems erduldet hatten.
Paulus konnte mit dem Ausdruck „die Juden“ nicht alle Menschen jüdischer Abstammung meinen. Er selber war ein Jude, auch der Kern der Gemeinde von Thessalonich kam aus der dortigen Synagoge. So war es auch in den meisten anderen Gemeinden, die durch seine Verkündigung entstanden sind. Wenn Paulus in eine neue Stadt kam, um das Evangelium zu verkünden, ging er grundsätzlich zuerst zu den Juden. Das Volk, dem Gott die Verheißung des Messias geschenkt hatte, sollte zuerst die Botschaft hören, dass in Jesus der Messias tatsächlich gekommen ist. Es war wie ein Muster in seiner Verkündigung, dass es einerseits viel Zuspruch (auch unter den Juden), aber auch viel Ablehnung, meist von den jeweiligen Autoritäten, gab.
Die harten Worte gegen „die Juden“ betrafen die jüdischen Führer, die nicht nur selber Jesus ablehnten, sondern auch andere daran hindern wollten. Diesen Menschen kündigte Paulus das Gericht an. Er folgte in diesem Punkt seinem Herrn Jesus Christus, der z. B. in Matthäus 23,13 gesagt hat:
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Denn ihr selbst geht nicht hinein und lasst die nicht hinein, die hineingehen wollen.
Wenn Paulus davon schreibt, dass sie das Maß ihrer Sünden vollmachen (Vers 16), so scheint er auf die Worte Jesu in Matthäus 23,32 anzuspielen:
Macht nur das Maß eurer Väter voll!
Für Paulus war klar, dass die jüdischen Führer dadurch, dass sie nicht nur selber Jesus ablehnten, sondern auch noch andere an der Nachfolge Jesu hinderten, sich selbst das Gericht bereiteten, das Gericht, über das Jesus in Matthäus 24 gesprochen hat. Paulus schrieb seinen Brief im Jahre 50, d. h., ca 20 Jahre, nachdem Jesus diese Gerichtsworte gesprochen hatte, und ca. 20 Jahre, bevor diese Worte in der Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels ihre Erfüllung gefunden haben. Weil Paulus sich der Realität dieses Gerichts bewusst war, konnte er am Ende von Vers 16 darüber schon als eine Tatsache schreiben:
Aber der ganze Zorn ist schon über sie gekommen.
Der Zusammenhang macht klar, dass es Paulus nicht um alle Juden aller Zeiten ging, sondern um die konkreten jüdischen Führer, die das Wirken Jesu und das Wirken seiner Jünger nicht nur abgelehnt haben, sondern aktiv behindert haben, die den Tod Jesu betrieben und die Verfolgung der Gemeinde initiiert haben.
Keinesfalls hat Paulus damit alle seine Volksgenossen und schon gar nicht eine jüdische „Rasse“ gemeint.
Wie stand Paulus zu seinem Volk?
Ich möchte nur beispielhaft einige Verse anführen, die zeigen sollen, wie sehr Paulus sein Volk, das Gottes auserwähltes Volk war, liebte und für ihr Heil kämpfte.
Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, aber ebenso für den Griechen. (Römer 1,16)
Das Evangelium hat Paulus, wo es nur ging, zuerst seinem eigenen Volk verkündet.
1 Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, wobei mein Gewissen mir Zeugnis gibt im Heiligen Geist, 2 dass ich große Traurigkeit habe und unaufhörlichen Schmerz in meinem Herzen; 3 denn ich selbst, ich habe gewünscht, verflucht zu sein von Christus weg für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch; 4 die Israeliten sind, deren die Sohnschaft ist und die Herrlichkeit und die Bündnisse und die Gesetzgebung und der Gottesdienst und die Verheißungen; 5 deren die Väter sind und aus denen dem Fleisch nach der Christus ist, der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit. Amen. (Römer 9,1-5, Elberfelder)
Paulus wollte, dass seine Brüder das Heil erlangen. Es bereitete ihm einen tiefen Schmerz, dass viele aus dem Volk Israel den Messias ablehnten. Zu ihrem Heil wäre er sogar bereit gewesen, von Christus getrennt zu sein. Natürlich ist das nicht möglich. Aber es zeigt die große Liebe, die der Apostel für sein Volk hatte. Er erwähnt auch alle Segnungen, mit denen Gott sein Volk beschenkt hatte.
19 Obwohl ich also von niemandem abhängig bin, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. 20 Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen. (1 Korinther 9,19-20)
Paulus hat alles getan, um es seinen Volksgenossen möglichst leicht zu machen, das Evangelium anzunehmen. Mehr zu diesen Versen gibt es in einem eigenen Beitrag.
Nein, Paulus war kein Judenhasser. Er hat sein eigenes Volk geliebt und wollte alles tun, um sie zu Gott zu führen. Deswegen hatte er auch einen klaren Blick für die Verantwortungsträger in seinem Volk, die sich nicht nur dem Wirken Gottes in den Weg gestellt haben, sondern auch noch die verfolgten, die den Weg Gottes gehen wollten. Diese Menschen haben sich selbst das Gericht gesprochen. Paulus hat das ebenso wie Jesus mit klaren Worten zum Ausdruck gebracht.