Spricht Obadja von einer neuen Landnahme?

Und das Haus Jakob wird die in Besitz nehmen, die es in Besitz genommen haben. 18 Und das Haus Jakob wird zu Feuer und das Haus Josef zur Flamme und das Haus Esau zu Stroh, das vom Brand erfasst und verzehrt wird. Und vom Haus Esau wird keiner entkommen. Denn der HERR hat gesprochen. 19 Die vom Negeb nehmen in Besitz das Bergland von Esau und die aus der Schefela das Land der Philister. Dann nehmen sie Efraims Flur und die Fluren von Samaria in Besitz und Benjamin Gilead. 20 Und den Verbannten von Halach, den Söhnen Israels – ihnen gehört das Land der Kanaaniter bis nach Sarepta; und den Verbannten Jerusalems – ihnen gehört das Land bis Sefarad; sie besetzen die Städte des Negeb. (Obadja 17b-20)

Das Buch des Propheten Obadja ist das kürzeste Buch des Alten Testaments. Es umfasst nur ein Kapitel, das sich vor allem mit den Edomitern beschäftigt. Den Edomitern wird Gewalttat an ihrem Bruder Jakob (= Israel) vorgeworfen (Vers 10). Sie haben sich über den Untergang Judas gefreut und sind auch gegen ihre Flüchtlinge vorgegangen (Verse 11-14). Diese Anklagen sind wohl im Zusammenhang mit der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 587 v. Chr. zu sehen. Manche datieren den Propheten aber schon früher in die Zeit des Königs Joram im 9. Jahrhundert.

Den Edomitern wird von Obadja das Gericht angekündigt:

Fürwahr! Nahe ist der Tag des HERRN über alle Völker. Wie du getan hast, so wird dir getan werden; deine Tat wird auf dein Haupt zurückkehren. (Obadja 15)

In diesem Zusammenhang ist in den Versen 19 und 20 von einer neuen Landnahme die Rede. Das Bergland von Esau (= Edom) soll von den Bewohnern des Negev im Süden Judas besetzt werden, ebenso das Küstenland der Philister von den Bewohnern des östlich davon liegenden Hügellandes. Das Bergland von Ephraim und Samaria, das sich in den heute palästinensischen Gebieten befindet und auch Gilead im Ostjordanland werden eingenommen. Die Rückkehrer aus der Verbannung1 werden Kanaan bis nach Sarepta (hebräisch Zarpat), einem Ort im heutigen Libanon, 13 km südlich von Sidon, in Besitz nehmen. Die Verbannten Jerusalems in Sefarad2 werden den Negev besiedeln.

Spricht hier Obadja über unsere Zeit? Lesen wir hier eine Grundlage für das Siedlungsprogramm des modernen Staats Israel?

Ich denke, dass es Obadja nicht darum ging, konkrete Aussagen über unsere Zeit, ca. 2500 Jahre nach seinem Wirken, zu machen. Er war bestürzt über die Bosheit der Edomiter und über das Schicksal seines Volkes. Er wusste von Gott, dass diese Situation nicht das Ende sein wird. Gott wird sich seines Volkes wieder erbarmen und sie aus der Verbannung zurückholen. Gott wird auch die Edomiter bestrafen. Das war seine grundsätzliche Aussage. Es ging ihm nicht um die Landverteilung im Detail. Er sah, dass das Volk wieder zurückkehren werde.

Die Edomiter existieren nicht mehr. Ihre Nachkommen, die Idumäer, wurden im 2. Jahrhundert v. Chr. von Johannes Hyrkanus zwangsjudaisiert. Sie sind also weitgehend im jüdischen Volk aufgegangen. Insofern macht es keinen Sinn, ein prophetisches Wort, das so sehr mit den Edomitern verbunden ist, auf unsere Zeit zu beziehen.

Ein Großteil der von Obadja genannten Gebiete waren um 100 v. Chr. unter jüdischer Herrschaft, allerdings unter dem gottlosen Herrscher Alexander Jannäus. Die Nordgrenze bei Sarepta wurde aber nicht erreicht. Auch waren die ursprünglich edomitischen Siedlungsgebiete in der Hand der Nabatäer. Im vollen Ausmaß haben sich die Worte Obadjas nicht erfüllt. Sollen wird das dann nicht doch noch erwarten?

Mit dem Kommen des Messias Jesus hat sich die Situation grundsätzlich geändert. Es geht nicht mehr um die Errichtung eines politischen Reiches. Es geht um das Reich Gottes, das nicht an ein besonderes Volk gebunden ist. Zum neuen Israel gehören alle, die Jesus nachfolgen, unabhängig davon, aus welchem Volk sie stammen. Das neue Israel hat kein Staatsgebiet. Das Reich Gottes ist überall, wo Menschen sich unter die Herrschaft Gottes und seines Messias stellen. Sein Reich ist nicht von dieser Welt (Johannes 18,36).

Eine zentrale Aussage Obadjas finden wir in Vers 17a:

Aber auf dem Berg Zion wird Rettung sein, und er wird heilig sein. (Obadja 17a – Elberfelder)

Obadja hat bei dem Berg Zion an den konkreten Hügel in Jerusalem gedacht, auf dem der Tempel stand. Die Rückkehrer aus dem Exil haben dort den Tempel neu errichtet. Er war der Mittelpunkt ihrer Gottesverehrung. Doch seit Jesus geht es um einen neuen Berg Zion.

22 Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hinzugetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung 23 und zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind, und zu Gott, dem Richter aller, und zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten, 24 zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, und zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als das Blut Abels. (Hebräer 12,22-24)

Auf diesem geistlichen Berg Zion ist Rettung für alle Menschen, die sich durch Jesus reinigen lassen. Der Tempel in Jerusalem war ein Vorbild dieses ewigen „Berges“.

Obadjas Erwartung wird im Schlussvers seines kurzen Buches ausgedrückt:

Dann ziehen die Befreier auf den Berg Zion, um Gericht zu halten über das Bergland von Esau. Dann gehört die Königsherrschaft dem HERRN. (Obadja 21)

Er sah die Königsherrschaft des HERRN darin verwirklicht, dass Befreier auf den Berg Zion ziehen und Esau (= Edom) gerichtet wird.

Auch Jesus hat über die Königsherrschaft Gottes gesprochen. Er ist es, der uns durch seine vollkommene Hingabe bis zum Tod am Kreuz die wahre Befreiung geschenkt hat. Er ist unser Befreier, der uns auf den Berg Zion führt. Es geht nicht mehr um das Gericht über ein nicht mehr existierendes Volk. Es geht aber um das Gericht über die Sünden, für die „Edom“ steht: Gewalttat, Schadenfreude und vor allem Hochmut und Stolz. Wer Jesus nachfolgt, akzeptiert das Gericht über diese Sünden und lässt sich von Jesus befreien. So gehört die Königsherrschaft dem HERRN.

15 Da wird der Mensch gebeugt und der Mann erniedrigt, und die Augen der Hochmütigen werden erniedrigt. 16 Und der HERR der Heerscharen wird im Gericht erhaben sein, und Gott, der Heilige, sich heilig erweisen in Gerechtigkeit. (Jesaja 5,15-16 – Elberfelder)

Beugt euch also in Demut unter die mächtige Hand Gottes, damit er euch erhöht, wenn die Zeit gekommen ist! (1 Petrus 5,6)


  1. Der Text der Einheitsübersetzung „von Halach“ entspricht nicht dem hebräischen Text. 
  2. Hier ist die Elberfelder Bibel näher am Text: die Weggeführten Jerusalems, die in Sefarad sind. Öfters wird dieser Ort mit Sardes in Kleinasien gleichgesetzt. Mittelalterliche jüdische Erklärer haben es mit Spanien identifiziert. 

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