Und als Wir mit euch ein Abkommen trafen und den Berg über euch emporhoben (und zu euch sagten): „Haltet fest an dem, was Wir euch gegeben haben und hört.“ Sie sagten: „Wir hören, doch wir widersetzen uns.“ (Sure 2,93a)
Und Wir hoben den Berg über sie bei (der Entgegennahme von) ihrem Abkommen empor. Und Wir sagten zu ihnen: „Tretet, euch niederwerfend, durch das Tor ein!“ Und Wir sagten zu ihnen: „Übertretet nicht den Sabbat!“ Und Wir trafen mit ihnen ein festes Abkommen. (Sure 4,154)
Und als Wir den Berg über sie heraushoben, als wäre er ein Schattendach, und sie glaubten, er würde auf sie fallen: „Haltet fest an dem, was Wir euch gegeben haben, und gedenkt dessen, was es enthält, auf daß ihr gottesfürchtig werden möget!“ (Sure 7,171)
Der Koran beschäftigt sich an verschiedenen Stellen mit dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und dem anschließenden Zug in der Wüste. In den hier zitierten Versen lesen wir über ein Ereignis, das wir in der Thora und insbesondere im Buch Exodus, in dem der Auszug aus Ägypten erzählt wird, nicht finden.
Heinrich Speyer1 hat die entsprechenden Texte aus dem Talmud mitgeteilt:
Es heißt nämlich: und sie stellten sich unter dem Berge auf, und hierzu sagte R. Dimi h. Ḥama, dies lehre, daß der Heilige, gepriesen sei er, über Jisraél den Berg wie einen Kübel stülpte und zu ihnen sprach: Nehmet ihr die Tora an, so ist es recht, wenn aber nicht, so ist hier euer Grab. (Avodah Zarah 2b)
Und sie stellten sich am Fuße des Berges auf. R. Evdämi b. Ḥama (b. Ḥasa) sagte : Dies lehrt, daß der Heilige, gepriesen sei er, über sie den Berg wie einen Kübel stülpte und zu ihnen sprach: Wollt ihr die Tora empfangen, so ist es gut, wenn aber nicht, so ist hier euer Grab. (Schabbat 88a)
Beide Stellen aus dem Talmud beziehen sich auf Exodus 19,17:
Mose führte das Volk aus dem Lager hinaus Gott entgegen. Unten am Berg blieben sie stehen.
Die beiden genannten Rabbis haben das „unten am Berg“ als „unter dem Berg“ interpretiert. Gott habe den Berg über die Israeliten gestülpt, sodass sie unter ihm waren. Hätten sie die Thora nicht angenommen, wären sie unter dem Berg begraben worden.
Martin Buber übersetzte:
[…] sie stellten sich auf zuunterst des Bergs.
Diese Version könnte man auch im Sinne der rabbinischen Interpretation verstehen. Doch hätte Gott tatsächlich ein derartiges Wunder gewirkt, würde das in Exodus klarer ausgedrückt worden sein.
Gemeint war, dass sich das Volk am Fuß des Berges aufgestellt hat, wie es z. B. in der Elberfelder Bibel heißt.
Der weitere Zusammenhang stellt das auch klar. So heißt es in den Versen 12 und 23:
Zieh um das Volk eine Grenze und sag: Hütet euch, auf den Berg zu steigen oder auch nur seinen Fuß zu berühren! Jeder, der den Berg berührt, hat den Tod verdient. (Exodus 19,12)
Mose entgegnete dem HERRN: Das Volk kann nicht auf den Sinai steigen. Denn du selbst hast uns eingeschärft: Zieh eine Grenze um den Berg und erklär ihn für heilig! (Exodus 19,23)
Der schriftunkundige Prophet, dem die talmudische Überlieferung wohl nur mündlich zugetragen worden war, kannte diesen Zusammenhang nicht. Er hatte vielleicht aber eine Vorliebe für spektakuläre Situationen. Er hat den Talmud gewiss nicht wörtlich kopiert, hat diese Situation auch etwas anders interpretiert. Aber letztlich ist es eine rabbinische Spekulation, die ihren Weg in den Koran gefunden hat.
Wieder einmal zeigt sich, dass der Koran ein von Menschen gemachtes Buch ist, keinesfalls aber das ewige Wort Gottes.
Darum weise sie streng zurecht, damit sie im Glauben gesund werden 14 und sich nicht mehr an jüdische Fabeleien halten und an Gebote von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden! (Titus 1,13b-14)
- Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, 3. Nachdruckauflage, Hildesheim 1988, S. 303-304. ↩