Wer war Natanael?

Der Jünger Natanael („Gott hat gegeben“) kommt nur im Johannesevangelium vor. Johannes 1,45-51 erzählt seine erste Begegnung mit Jesus ausführlicher als die anderer Jünger, die sich bei Johannes dem Täufer aufhielten. Schon bei dieser ersten Begegnung bekannte er Jesus als Sohn Gottes und König von Israel (Johannes 1,49). In dieser Situation hat Natanael noch nicht die ewige Gottessohnschaft Jesu erkannt. „Sohn Gottes“ war gleichbedeutend wie „Messias“, was auch der Titel „König von Israel“ zum Ausdruck brachte. Jesus hat ihm in Anspielung auf den Traum Jakobs in Genesis 28,12 verheißen:

Du glaubst, weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah; du wirst noch Größeres als dieses sehen. 51 Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn. (Johannes 1,50-51)

Ein zweites Mal wird Natanael in Johannes 21,1-2 erwähnt:

1 Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern noch einmal, am See von Tiberias, und er offenbarte sich in folgender Weise. 2 Simon Petrus, Thomas, genannt Didymus, Natanaël aus Kana in Galiläa, die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern waren zusammen.

Die Situation war in Galiläa nach der Auferstehung Jesu, als die Jünger wieder am See Gennesaret waren, wo Petrus vorschlug zu fischen und ihnen Jesus unerwartet erschien. In dieser Stelle erfahren wir auch Natanaels Heimatort: Kana in Galiläa, wo Jesus sein erstes Wunder gewirkt hatte (Johannes 2,1-11).

Da der Evangelist Johannes der ersten Begegnung zwischen Jesus und Natanael so viel Raum schenkte und auch bei der Situation am See nur ein kleiner Kreis von nur sieben Jüngern dabei war, würde man erwarten, dass auch Natanael einer der zwölf Apostel war. Anders als in den synoptischen Evangelien gibt es im Johannesevangelium keine Liste der zwölf Apostel. Allerdings nennt Johannes immer wieder verschiedene Apostel namentlich.

In Matthäus 10,2-4 lautet die Liste der Apostel wie folgt:

2 Die Namen der zwölf Apostel sind: an erster Stelle Simon, genannt Petrus, und sein Bruder Andreas, dann Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und sein Bruder Johannes, 3 Philippus und Bartholomäus, Thomas und Matthäus, der Zöllner, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus, 4 Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn ausgeliefert hat.

Die Listen in Markus 3,16-18, Lukas 6,14-16 und Apostelgeschichte 1,13 stimmen mit dieser Liste überein. Es gibt nur kleinere Unterschiede in der Reihenfolge. Thaddäus wird im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte Judas, der Sohn des Jakobus genannt. Simon Kananäus heißt bei Lukas und in der Apostelgeschichte Simon der Zelot. Die Bedeutung beider Beinamen ist „Eiferer“, das eine Mal auf Hebräisch oder Aramäisch, das zweite Mal auf Griechisch.

Wenn Natanael einer der Zwölf war, musste er unter einem anderen Namen in diesen Listen genannt sein.

Simon Petrus, Andreas und Philippus kommen im Zusammenhang von Johannes 1 vor (Simon: 1,40-42; Andreas: 1,40-41; Philippus: 1,43-46). Philippus war auch derjenige, der Natanael zu Jesus brachte. Die Söhne des Zebedäus (Johannes und Jakobus) werden in Johannes 21,2 neben Natanael genannt, ebenso Thomas, der auch sonst noch im Johannesevangelium vorkommt.

Natanael konnte auch nicht Matthäus der Zöllner sein, da dieser erst später (Matthäus 9,9-10) berufen wurde.

Judas (= Thaddäus) kommt in Johannes 14,22 vor:

Judas – nicht der Iskariot – fragte ihn: Herr, wie kommt es, dass du dich nur uns offenbaren willst und nicht der Welt?

Es bleiben Bartholomäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon Kananäus, die im Johannesevangelium nie genannt werden. Wir wissen über alle drei Jünger nicht mehr als den Namen. Der Beiname von Simon könnte darauf hinweisen, dass er ursprünglich ein Zelot war, also jemand, der den bewaffneten Kampf gegen die Römer befürwortete. In diesem Fall wäre es eher unwahrscheinlich gewesen, wenn er sich Johannes dem Täufer angeschlossen hätte, obwohl man das natürlich nicht ausschließen kann.

Der Name Bartholomäus (griechisch: Βαρθολομαῖος / Bartholomaîos) ist die gräzisierte Form des aramäischen Bar Talmai mit der Bedeutung „Sohn des Talmai“. Der Name Talmai ist in 2 Samuel 3,3 und 13,37 als Name des Königs von Geschur, der auch Schwiegervater von David war, bezeugt.

Matthäus hat in seiner Apostelliste die Namen in Zweiergruppen sortiert. Dort sind Philippus und Bartholomäus verbunden. Auch in Markus 3,18 und Lukas 6,14 stehen Philippus und Bartholomäus nebeneinander. In Apostelgeschichte 1,13 heißt es aber:

[…] Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus […]

Die Verbindung der Namen von Philippus und Bartholomäus zumindest in den synoptischen Apostellisten würde gut dazu passen, dass nach Johannes 1,45-46 Philippus derjenige war, der Natanael zu Jesus brachte.

Die naheliegende Erklärung wäre, dass Natanael der Sohn des Talmai (= Bartholomäus) war, so wie auch Bartimäus der Sohn des Timäus war (Markus 10,46) und dass die Synoptiker die Benennung nach seinem Vater überliefert haben.

Diese Gleichsetzung von Natanael mit Bartholomäus macht auch die Jerusalemer Bibel (1968). Die Neue Jerusalemer Bibel (1985) geht allerdings davon ab. Dort heißt es:

Natanaël wurde seit dem 9. Jahrhundert häufig mit Bartholomäus identifiziert. Alte Apostellisten nennen ihn jedoch neben diesem.

Mir sind diese „alten Apostellisten“ nicht bekannt. Sie dürften aber nicht aus den ersten beiden Jahrhunderten stammen und beruhen daher wohl nicht auf verlässlichen historischen Überlieferungen.

Um 400 ging Augustinus jedoch davon aus, dass Natanael keiner der zwölf Apostel war:

Was tun wir also, Brüder? Sollte dieser der erste sein unter den Aposteln? Er wird nicht bloß nicht als der erste unter den Aposteln erfunden, sondern auch nicht der mittlere noch auch der letzte unter den Zwölfen ist Nathanael, dem der Sohn Gottes ein solches Zeugnis gab, indem er sprach: „Siehe, wahrhaft ein Israelite, in welchem kein Falsch ist“. Fragt man nach der Ursache? So weit der Herr sie mitteilt, finden wir sie wahrscheinlich. Wir müssen nämlich erwägen, daß Nathanael gelehrt und gesetzeskundig gewesen sei; deshalb wollte ihn der Herr nicht unter die Jünger einreihen, weil er Unwissende erwählte, um durch sie die Welt zu beschämen. (Augustinus, Vorträge über das Johannes-Evangelium 7,17)

Woher er entnahm, dass Natanael ein Gesetzesgelehrter war, verrät Augustinus allerdings nicht. Oft wird das aus der Erwähnung des Feigenbaums vermutet, weil „Rabbinen den Platz unter einem Baum gern als Stätte für ihre Studien gewählt haben“.1 Doch geht es dabei nicht spezifisch um einen Feigenbaum. Im Talmud werden auch ein Olivenbaum oder eine Eiche genannt. Das Wort Jesu über das Sitzen unter dem Feigenbaum kann auch auf eine besondere Situation hinweisen, von der Natanael annahm, dass Jesus sie unmöglich kennen konnte. Natanael hat gewusst, was Jesus gemeint hat. Wir können es leider nicht so genau wissen. Auf jeden Fall war Natanael so demütig, dass er zu Johannes dem Täufer gekommen ist. Das haben die Schriftgelehrten in der Regel nicht gemacht.

Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass Natanael einer der Zwölf war und in den Apostellisten unter dem Namen Bartholomäus aufscheint.

Sein Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes dürfen wir in einem viel tieferen Sinn verstehen, als er es bei seiner ersten Begegnung mit Jesus getan hat. Dieses Bekenntnis ist die Grundlage des christlichen Glaubens.

Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater. (1 Johannes 2,23)


  1. Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 2. Band: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, München 1924, S. 371. 

Kommentare sind geschlossen.

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑