Wie hat Abraham Gott erkannt?

Terach, der Vater Abrahams, war nach Josua 24,2 ein Diener fremder Götter.

Josua sagte zum ganzen Volk: So spricht der HERR, der Gott Israels: Jenseits des Stroms wohnten eure Väter von Urzeiten an, Terach, der Vater Abrahams und der Vater Nahors, und dienten anderen Göttern.

Abraham hingegen wird von Beginn als Diener des wahren Gottes vorgestellt.

1 Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! 2 Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. 3 Ich werde segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den werde ich verfluchen. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen. 4 Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte. (Genesis 12,1-4a)

Wie ist Abraham zur Erkenntnis Gottes gelangt? Die Bibel schweigt darüber. Doch worüber die Bibel schweigt, darüber spricht der Koran.

74 Und als Ibrāhīm zu seinem Vater Āzar sagte: „Nimmst du (denn) Götzenbilder zu Göttern? Gewiß, ich sehe dich und dein Volk in deutlichem Irrtum.“ 75 Und so zeigten Wir Ibrāhīm das Reich der Himmel und der Erde, – und damit er zu den Überzeugten gehöre. 76 Als die Nacht über ihn hereinbrach, sah er einen Himmelskörper. Er sagte: „Das ist mein Herr.“ Als er aber unterging, sagte er: „Ich liebe nicht diejenigen, die untergehen.“ 77 Als er dann den Mond aufgehen sah, sagte er: „Das ist mein Herr.“ Als er aber unterging, sagte er: „Wenn mein Herr mich nicht rechtleitet, werde ich ganz gewiß zum irregehenden Volk gehören.“ 78 Als er dann die Sonne aufgehen sah, sagte er: „Das ist mein Herr. Das ist größer.“ Als sie aber unterging, sagte er: „O mein Volk, ich sage mich ja von dem los, was ihr (Ihm) beigesellt. 79 Ich wende mein Gesicht Dem zu, Der die Himmel und die Erde erschaffen hat, als Anhänger des rechten Glaubens, und ich gehöre nicht zu den Götzendienern. (Sure 6,74-79)

Vielleicht gehört auch Sure 37,88-90 in diesen Zusammenhang.

88 Dann warf er einen Blick zu den Sternen 89 und sagte: „Gewiß, ich bin krank.“ 90 Da kehrten sie ihm den Rücken.

Ich verstehe den Abschnitt aus Sure 6 so, dass Abraham schon erkannt hatte, dass die Götzenbilder keine wahren Götter sein konnte, dass es ihm bei den Himmelskörpern aber nicht so klar war. Darum hat Gott ihm „das Reich der Himmel und der Erde“ gezeigt. Am Untergehen eines Sternes, dann des Mondes und schließlich der Sonne hat Abraham gemerkt, dass auch diese nicht „sein Herr“ sein können.

Diese Geschichte ist höchst eigenartig. Abraham war zu diesem Zeitpunkt kein kleines Kind mehr, da er mit seinem Vater über die Götzenbilder diskutierte. Trotzdem ist es in dieser Geschichte eine ganz neue Erfahrung Abrahams, dass die Gestirne, der Mond und vor allem die Sonne untergehen. Zumindest der Sonnenuntergang mit dem anschließenden Eintreten der Dunkelheit war doch eine alltägliche Erfahrung, die er schon von früher Kindheit an kannte. Insofern scheint mir diese Erzählung äußerst unglaubwürdig zu sein.

Heinrich Speyer1 erwähnt verschiedene jüdische Texte, die sich ebenfalls mit der Frage, wie Abraham Gott erkannte, beschäftigen.

Er war ein Mann von tiefer Einsicht, großer Überredungsgabe und einem sehr gesunden Urteil. Da er sich durch seine Tugend auch bei anderen Ansehen verschafft hatte, glaubte er es an der Zeit, die herkömmlichen falschen Vorstellungen von Gott umzugestalten und zu berichtigen. Er wagte es zuerst, mit dem Bekenntnis hervorzutreten, daß nur ein Gott sei, der alle Dinge hervorgebracht habe, und daß alles, was nur irgend zu des Menschen Glückseligkeit dienlich sei, uns von seiner Güte geschenkt und nicht durch eigene Kraft verschafft werde. Dies erkannte er nämlich durch die Betrachtung des Landes und des Meeres, der Sonne und des Mondes, sowie der Veränderungen am Himmel. Denn hätten − dachte er − diese Dinge ihren Bestand durch sich selbst, so würden sie auch für die Erhaltung ihrer Ordnung Sorge tragen können. Dies aber tun sie offenbar nicht, und deshalb können sie auch nicht durch ihre eigene Kraft nur nützlich sein, sondern sie sind durchaus abhängig von der Macht ihres alles regierenden Herrn, dem daher auch allein Ehre und Dank gebührt.“ (Flavius Josephus, Antiquitates I,7,1)

Nachdem dieser (Abraham) ein eifriger Anhänger der Frömmigkeit, der höchsten und wichtigsten Tugend, geworden war, bestrebte er sich, Gott zu folgen und seinen Befehlen gehorsam zu sein, indem er als dessen Befehle nicht bloß die ansah, die durch Wort und Schrift kundgetan werden, sondern auch die, welche die Natur in deutlichen Zeichen offenbart und die der wahrhaftigste der Sinne (das Auge) eher als das unzuverlässige und unsichere Ohr in sich aufnimmt. Denn wer die in der Natur herrschende Ordnung und die über Beschreibung erhobene Verfassung der Welt betrachtet, der lernt, ohne daß jemand ihm ein Wort sagt, ein gesetzestreues und friedliches Leben führen … (Philo, De Abrahamo, ed. Cohn, § 60)

Als an einem Tage Abraham sich auf dem Felde niedergelegt hatte und die Sterne des Himmels sah und alles von Gott, nahm er es auf in seinem Herzen und sprach: O, großes Wunder! Diese Götter haben es nicht gemacht, den Himmel und die Erde und alles hat Gott gemacht; aber wir sind unvernünftige Menschen, nicht glaubend an den Schöpfer des Himmels und der Erde, sondern wir glauben an Steine und Holz und an Wahngebilde, aber nun sehe ich und begreife, daß Gott groß ist, der geschaffen hat den Himmel und die Erde und die ganze Welt. (Apokalypse Abrahams, ed. Bonwetsch, Leipzig 1897, S.10)

Und er kam an das Ufer des Flusses. Und als die Sonne unterging und die Sterne hervorkamen, sprach er: Diese sind Gott! Dann, als die Morgenröte anbrach, sah er die Sterne nicht mehr und sprach: Ich will diesen nicht dienen, denn sie sind nicht Gott. Dann sah er die Sonne und sagte: Dies ist mein Gott, und ich will ihn preisen (Exodus 15,2). Und als die Sonne unterging, sagte er: Auch das ist kein Gott! Dann sah er den Mond und sprach: Dies ist mein Gott, ich will ihm dienen. Und als es dunkel wurde, sagte er: Auch das ist kein Gott! Einer muß sein, der sie alle bewegt. (Ma’asē Abraham: Jellinek, Bet ha-Midrasch I, S. 25ff)

Als er drei Jahre alt war, ging er aus der Höhle heraus und grübelte darüber nach: Wer hat Himmel und Erde und mich erschaffen? Er betete den ganzen Tag zur Sonne, und am Abend ging die Sonne im Westen unter, und der Mond strahlte im Osten auf. Als er den Mond und die Sterne rings um den Mond sah, sprach er: Der hat Himmel und Erde und mich erschaffen, und diese Sterne sind seine Fürsten und Diener. Er betete die ganze Nacht zum Mond. Am Morgen ging der Mond im Westen unter, und die Sonne strahlte im Osten auf. Da sprach er: Diese alle haben keine Macht. Ein Herr ist über ihnen, zu ihm will ich beten und vor ihm mich bücken. (Ma’asē Abraham: Jellinek, Bet ha-Midrasch II, S. 118)

Die ersten drei Texte (Flavius Josephus, Philo, Apokalypse Abrahams) wurden Jahrhunderte vor Mohammed abgefasst. Die beiden letztgenannten Texte (Ma’asē Abraham) stammen aus späterer Zeit. Speyer nimmt an2:

Form und Inhalt der aus der ma’asē Abraham zitierten Stellen sprechen dafür, daß sie aus der arab. Sage in das Hebräische übersetzt wurden.

Interessant ist, dass der letztzitierte Text über den dreijährigen Abraham spricht. Vielleicht war dem Verfasser dieses Textes klar, dass der koranische Text, bei dem Abraham erstaunt bemerkt, dass die Sonne untergeht, nur zu einem kleinen Kind passen kann.

Die drei erstgenannten jüdischen Texte zeigen, dass der Gedanke, dass Abraham aus der Beobachtung des Wechsels der Natur und der Himmelskörper erkannte, dass diese keinesfalls Götter sein können, schon Jahrhunderte vor Mohammed existierte, ohne dass dieser Gedanke von Gott offenbart worden wäre.

Vor diesem Hintergrund konnte auch der Autor des Korans seine Geschichte formulieren, die dann wieder spätere jüdische Texte beeinflusst hat.

Man kann aber sehen, dass die Gedanken, wie sie Flavius Josephus und Philo von Alexandrien formuliert haben, durchdachter waren als die Geschichte, die im Koran erzählt wird. Sollen wir annehmen, dass der Allmächtige in seinem ewigen Wort das Niveau jüdischer Denker nicht erreicht hat? Ist das die Einzigartigkeit des Korans? Sogar ein späterer, vom koranischen Text abhängiger jüdischer Autor musste diese Geschichte in die frühe Kindheit Abrahams verlegen, damit sie einigermaßen passt.

Ein weiteres Problem am koranischen Text besteht im Namen des Vaters Abraham. In der Bibel heißt er Terach, im Koran hingegen Āzar.3 Nach schiitischer Erklärung war Terach oder Tarah tatsächlich der Vater Abrahams, der aber entgegen dem biblischen Zeugnis kein Götzendiener war. Āzar wäre ein Onkel Abrahams und sein Ziehvater gewesen, der Götzen anbetete. Sunniten hingegen nehmen an, dass Āzar und Terach dieselbe Person gewesen sei und einen Doppelnamen gehabt habe. Die schiitische Erklärung steht in offensichtlichem Widerspruch zur Bibel. Die sunnitische Erklärung kann man bestenfalls als Notlösung erklären, wobei erstaunlich ist, dass in den mehr als zwei Jahrtausenden zwischen Abraham und dem Koran der zweite Name seines Vaters nie genannt wurde.

Es ist nicht erstaunlich, dass Menschen darüber nachgedacht haben, wie Abraham, der Sohn eines Götzendieners zur Erkenntnis des wahren Gottes gelangt ist. Einem Muslim sollte es aber zu denken geben, dass die Darstellung des Korans hinter den Darlegungen gebildeter Juden des 1. Jahrhunderts zurückbleibt.


  1. Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, 3. Nachdruckauflage, Hildesheim 1988, S.124-130. Die angeführten Texte habe ich nach diesem Werk zitiert. 
  2. Speyer, S. 127, Fußnote 1. 
  3. Speyer (S. 130, Fußnote 2): An dieser Stelle wird Ibrāhīms Vater Āzar genannt. Daß dieser Name von El-āzār = Λάζαρος [Lázaros] entstanden ist, hat zuerst Fraenkel erkannt. Mohammed hat wahrscheinlich von dem Knechte Abrahams Eli’ezer gehört, die beiden Namen miteinander verwechselt und das el als vermeintlichen Artikel fortgelassen. 

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