36 Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier. 37 Da sagte Pilatus zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. 38 Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit?
(Johannes 18,36-38a)
Pontius Pilatus, der von 26 bis 36 n. Chr. Präfekt (Statthalter) der römischen Provinz Judäa war, war nach allem, was aus der Geschichtsschreibung über ihn bekannt ist, ein Machtmensch. Bekannt wurde er den meisten Menschen aber durch seine Begegnung mit Jesus, der ihm als machtloser Gefangener vorgeführt wurde.
Als er Jesus befragte, wurde ihm rasch klar, dass Jesus nicht der Rebell gegen die Römer war, als den ihn die Anklage der jüdischen Führer dargestellt hatte.
Dort brachten sie ihre Anklage gegen ihn vor; sie sagten: Wir haben festgestellt, dass dieser Mensch unser Volk verführt, es davon abhält, dem Kaiser Steuer zu zahlen, und behauptet, er sei der Christus und König. (Lukas 23,2)
Jesus hat durch seine Worte dargelegt, dass er nicht der politische Messias war, den viele Juden erwarteten. Sein Königtum ist nicht von dieser Welt. Das Königtum Jesu ist auf der Wahrheit begründet. Jesus ist gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Wer aus der Wahrheit ist, hört seine Stimme. „Aus der Wahrheit sein“ meint nicht Vollkommenheit oder Sündenfreiheit, aber dass es in jemandem trotz seiner Sünden noch ein Bewusstsein von wahr und falsch, von gut und böse gibt, dass jemand erkennt, dass er gegen die Wahrheit gehandelt hat und von seinen Sünden frei sein will.
Pilatus war ein Machtmensch. Für ihn war Wahrheit keine entscheidende Kategorie. Es ging eher darum, woraus er den größten persönlichen Vorteil ziehen konnte. Seine Frage „Was ist Wahrheit?“ bedeutete nicht, dass er Jesus aufrichtig gefragt hätte, was denn die Wahrheit sei, quasi als Bitte, dass Jesus ihm doch die Wahrheit zeigen möge.
Diese Frage drückte eher sein Unverständnis darüber aus, dass für jemanden die Wahrheit wichtig sein könnte. „Was ist denn schon die Wahrheit?“ Sein Leben war nicht auf die Wahrheit gebaut. So war diese Frage nicht der Anfang eines ernsthaften Gesprächs, sondern die Beendigung eines kurzen Dialogs, aus dem Pilatus immerhin den Schluss gezogen hat, dass Jesus unschuldig war.
Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. (Johannes 18,38b)
Wenigstens hat Pilatus die Bosheit und Unaufrichtigkeit der Gegner Jesu durchschaut. Da er selber auch kein Freund der jüdischen Führer war und sich nicht zum Handlanger ihrer Interessen degradieren wollte, hat er ihrem Wunsch, Jesus zum Tode zu verurteilen, aufs Erste nicht nachgegeben. Da es ihm aber nicht um die Wahrheit ging, sondern um machtpolitische Taktik, hat er später doch ihrem Willen entsprochen und Jesus kreuzigen lassen.
Die Frage nach der Wahrheit wird auch heute von vielen nicht gerne gestellt. Man bevorzugt einen Relativismus, demzufolge man die Wahrheit nicht wissen könne. Das scheint aufs Erste sehr tolerant zu sein. Man muss sich nicht festlegen, man kann Konflikten aus dem Weg gehen.
Oder man denkt, dass es wichtig ist, immer die Wahrheit zu suchen, allerdings im Bewusstsein sie nie zu finden. So hat es Gotthold Ephraim Lessing ausgedrückt1:
Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“
Auf den ersten Blick meint man in diesem Text eine tiefe Demut zu finden. Doch die Haltung, die hier ausgedrückt wird, ist eine Haltung der Rebellion gegen Gott, der uns die Wahrheit in Jesus Christus offenbart hat. Menschlicher Stolz kämpft gegen die Worte Jesu, der gesagt hat:
7 Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet! 8 Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet. (Matthäus 7,7-8)
Diese Worte Jesu sind eine großartige Verheißung. Gott will uns nicht in der Dunkelheit des Irrtums gefangen halten. Jesus ist als Licht in diese Welt gekommen, damit wir die Wahrheit sehen und erkennen können. Dieses Geschenk Gottes sollen wir in Dankbarkeit annehmen und nicht in den Relativismus flüchten, der uns (nach Lessing) im ewigen Irrtum und damit auch in der ewigen Gottesferne belässt.
31 Da sagte er zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. 32 Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien. (Johannes 8,31-32)