Warum hat Jesus nicht die andere Wange hingehalten?

Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin! (Matthäus 5,39)

Diese Worte Jesu aus der Bergpredigt sind vielen bekannt. Manche sehen in diesen Worten einen klaren Hinweis auf die Weltfremdheit des Christentums. In einer Welt, in der sich vielfach die Starken, Kaltblütigen und Skrupellosen durchsetzen, kommt man mit dem Hinhalten der anderen Wange nicht weit.

Nun ist klar, dass es einem Christen nicht darum geht, in dieser von der Rebellion gegen Gott geprägten Welt, „weit zu kommen“. Aber hat Jesus wirklich gemeint, dass dieses Wort in jeder derartigen Situation wortwörtlich befolgt werden soll?

Jesus selbst hat uns ein Beispiel gegeben. Nach seiner Gefangennahme wurde er zuerst zu Hannas, dem Schwiegervater des amtierenden Hohepriesters, zu einer Art Vorverhör geführt. Obwohl Hannas seit dem Jahre 15 nicht mehr im Amt war, war sein Wort innerhalb der hohepriesterlichen Familie noch sehr bedeutend, und er wird von Johannes und auch seinem Diener Hohepriester genannt.

19 Der Hohepriester befragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. 20 Jesus antwortete ihm: Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im Geheimen gesprochen. 21 Warum fragst du mich? Frag doch die, die gehört haben, was ich zu ihnen gesagt habe; siehe, sie wissen, was ich geredet habe. 22 Als er dies sagte, schlug einer von den Dienern, der dabeistand, Jesus ins Gesicht und sagte: Antwortest du so dem Hohepriester? 23 Jesus entgegnete ihm: Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich? (Johannes 18,19-23)

Dem Diener des Priesters hat die Antwort Jesu offensichtlich nicht gefallen, obwohl Jesus nur darauf hingewiesen hat, dass die Menschen, die seine Worte gehört haben, befragt werden sollten. Als Angeklagter hatte er das Recht dazu.

Nachdem Jesus vom Diener geschlagen worden war, hat er ihm nicht die andere Wange hingehalten, sondern hat den Diener zur Rede gestellt. Die Reaktion des Dieners wird nicht berichtet.

Jesus ging es in seiner Reaktion nicht darum, sich selbst zu rechtfertigen. Er wollte dem Diener des Hohepriesters helfen, sein eigenes Tun zu hinterfragen. Ging es ihm darum, Hannas zu gefallen, oder ging es ihm um Gerechtigkeit? Jesus hatte mit seiner Frage an den Diener dessen Bestes im Blick. Jesus wusste, dass er sterben würde. Es ging ihm nicht darum, vor einem ungerechten Gericht sein irdisches Leben zu retten. Aber dem Diener, der vermutlich nur eine untergeordnete Position am hohepriesterlichen Hof einnahm, konnte er durch seine Frage helfen.

In der Bergpredigt hat Jesus eine Alternative zur Rachsucht aufgezeigt. Wenn jemandem Unrecht geschieht, soll es nicht um die Befriedigung der eigenen Rachegefühle gehen, auch nicht darum, dass man meint, man müsse unter allen Umständen sein Recht durchsetzen. Der Blick soll auf den gerichtet werden, der unrecht getan hat. Wie kann ihm am Besten geholfen werden? Der Ratschlag, die andere Wange hinzuhalten, ist nicht als ein Gebot zu verstehen, sich in einer derartigen Situation exakt so zu verhalten. Aber es ist ein Gebot, auf Böses nicht mit Bösem zu reagieren, den Gegner zu lieben und sein Bestes zu wollen.

Es mag Situationen geben, in denen das Hinhalten der anderen Wange den, der geschlagen hat, tatsächlich beschämt. Aber dieses Verhalten kann auch aus einer Motivation des Stolzes geschehen, wo man dem Beleidiger zeigen will, dass man ihm moralisch überlegen ist. In diesem Fall hätte man trotz wörtlicher Befolgung von Matthäus 5,39 der Intention des Gebotes Jesu nicht gehorcht.

Jesus schenkt die innere Freiheit, in der gegebenen Situation zu sehen, wie das richtige Verhalten aussieht, so wie auch Jesus in dieser Situation das Beste getan hat.

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