Hat Gott ein Groß-Israel vom Nil bis zum Euphrat verheißen?

An diesem Tag schloss der HERR mit Abram folgenden Bund: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Strom Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat-Strom, […] (Genesis 15,18)

Von Gegnern des modernen Staats Israel wird diesem unterstellt, die Errichtung eines Groß-Israel zwischen Nil und Euphrat anzustreben. Grundlage dieser Bestrebungen soll die Verheißung Gottes an Abraham in Genesis 15,18 sein.

Es scheint in manchen zionistischen Kreisen derartige Vorstellungen gegeben zu haben oder auch noch zu geben. Wie konkret die heutige Regierung Israels derartige Pläne hat oder wie weit die Vorwürfe der Gegner berechtigt sind, ist nicht Thema dieses Beitrags. Mir geht es darum, zu sehen, worum es in Genesis 15,18 tatsächlich geht.

Abraham und seine Frau Sara waren beide alt und kinderlos. Die Verheißung, die Gott Abraham gegeben hatte, als er ihn aus seinem Land nach Kanaan in das Land der Verheißung gerufen hatte, schien sich nicht zu erfüllen.

1 Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! 2 Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. (Genesis 12,1-2)

Abraham, der damals noch Abram hieß, war immer noch kinderlos und weit davon entfernt, Vater „eines großen Volks“ zu sein.

Vor diesem Hintergrund ist Genesis 15 zu sehen.

1 Nach diesen Ereignissen erging das Wort des HERRN in einer Vision an Abram: Fürchte dich nicht, Abram, ich selbst bin dir ein Schild; dein Lohn wird sehr groß sein. 2 Abram antwortete: Herr und GOTT, was kannst du mir geben? Ich gehe kinderlos dahin und Erbe meines Hauses ist Eliëser aus Damaskus. 3 Und Abram sagte: Siehe, du hast mir keine Nachkommen gegeben; so wird mich mein Haussklave beerben. (Genesis 15,1-3)

Doch Gottes Antwort bekräftigte die schon früher gegebene Verheißung:

4 Aber siehe, das Wort des HERRN erging an ihn: Nicht er wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn wird dein Erbe sein. 5 Er führte ihn hinaus und sprach: Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. 6 Und er glaubte dem HERRN und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an. (Genesis 15,4-6)

Später im Kapitel heißt es:

12 Bei Sonnenuntergang fiel auf Abram ein tiefer Schlaf. Und siehe, Angst und großes Dunkel fielen auf ihn. 13 Er sprach zu Abram: Du sollst wissen: Deine Nachkommen werden als Fremde in einem Land wohnen, das ihnen nicht gehört. Sie werden dort als Sklaven dienen und man wird sie vierhundert Jahre lang unterdrücken. 14 Aber auch über das Volk, dem sie als Sklaven dienen, werde ich Gericht halten und nachher werden sie mit reicher Habe ausziehen. 15 Du aber wirst in Frieden zu deinen Vätern heimgehen; im glücklichen Alter wirst du begraben werden. 16 Erst die vierte Generation wird hierher zurückkehren; denn noch hat die Schuld der Amoriter nicht ihr volles Maß erreicht. (Genesis 15,12-16)

In den Versen 13 und 14 geht es um die Knechtschaft Israels in Ägypten und den Exodus. Vers 16 spricht über die anschließende Landnahme, wenn die Sündhaftigkeit der Amoriter so groß sein würde, dass das Volk Israel, die Nachkommen Abrahams, über sie das Strafgericht Gottes vollziehen sollten.

Abraham sollte das „große Volk“ in seinem irdischen Leben nicht mehr sehen. Er würde aber in Frieden sterben, im Wissen, dass Gott seine Verheißung erfüllen würde.

Im Zusammenhang der in Vers 16 angekündigten Landnahme sind auch die Verse 18-21 zu verstehen.

18 An diesem Tag schloss der HERR mit Abram folgenden Bund: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Strom Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat-Strom, 19 die Keniter, die Kenasiter, die Kadmoniter, 20 die Hetiter, die Perisiter, die Rafaïter, 21 die Amoriter, die Kanaaniter, die Girgaschiter und die Jebusiter. (Genesis 15,18-21)

Die Verse 19-21 nennen zehn Völker, die nicht alle im Detail zu identifizieren sind. Es handelt sich aber um Völker, die im Bereich des damaligen Landes Kanaan zwischen dem Jordan und der Mittelmehrküste siedelten. Die Jebusiter etwa bewohnten die Stadt Jerusalem. Diese zehn  Völkerschaften gab es damals, heute aber nicht mehr. Der Zusammenhang spricht vom zweiten vorchristlichen, nicht aber vom dritten nachchristlichen Jahrtausend.

Was soll nun aber die Nennung des Stromes Ägyptens und des Eufrats?

Die durch Josua begonnene Eroberung Kanaans fand ihren Abschluss durch König David, der einige Nachbarvölker besiegte. So hat David auch Aramäer, die im Bereich des heutigen Syriens lebten, unterworfen (siehe 2 Samuel 8,3-10; 10,6-19). So reichte Davids Reich tatsächlich bis zum Eufrat, wenn auch nicht auf der vollen Länge bis zum Persischen Golf, sondern nur an einem kleinen Stück im Norden des heutigen Syrien.

Darum wird auch das Reich Salomos, des Sohnes Davids in seinen Grenzen so beschrieben:

1 Salomo war Herrscher über alle Reiche vom Eufrat bis zum Land der Philister und bis an die Grenze Ägyptens. Sie entrichteten Abgaben und waren Salomo untertan, solange er lebte. […] 4 Denn er herrschte über das ganze Gebiet diesseits des Stromes, von Tifsach bis Gaza, über alle Könige diesseits des Stromes. Er hatte Frieden ringsum nach allen Seiten. (1 Könige 5,1.4)

Dieses Reich war aber bei weitem nicht Siedlungsgebiet der Israeliten. Dieses reichte nur „von Dan bis Beerscheba“.

Juda und Israel lebten in Sicherheit von Dan bis Beerscheba; ein jeder saß unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum, solange Salomo lebte. (1 Könige 5,5)

Wie ist aber der „Strom Ägyptens“ in Genesis 15,18 zu verstehen? Bis dorthin ist auch König David nicht gekommen. Es gab niemals Bestrebungen des alten Israels, das ägyptische Kernland am Nil zu unterwerfen.

An einigen Stellen bildet der „Bach Ägyptens“ (Einheitsübersetzung: „Grenzbach Ägyptens“) die Grenze zwischen Israel und Ägyptens.

Von Azmon soll die Grenze zum Grenzbach Ägyptens abbiegen und ihre Ausläufer sollen bis zum Meer reichen. (Numeri 34,5)

[…] dann führt sie [die Grenze] hinüber nach Azmon, geht hinaus zum Grenzbach Ägyptens und läuft am Meer aus. Das wird für euch die Südgrenze sein. (Josua 15,4)

Mit dem „Bach Ägyptens“ (נַחַל מִצְרַיִם / naḥal mitzrajim) ist ein Gewässer im  Südwesten Israels gemeint, dessen Identifizierung nicht ganz klar ist. Auf bibelwissenschaft.de heißt es dazu:

Heute wird angenommen, dass während der Bronze- und Eisenzeit vor dem Ende des 7. Jh. v. Chr. der Naḥal Besor (Wādī Ġazze) als der Bach Ägyptens bekannt war, sich dies aber in der Perserzeit oder der hellenistischen Epoche zum Wādī l-‘Arīš verändert hat.

Der Naḥal Besor fließt quer durch den Gaza-Streifen, der Wādī l-‘Arīš liegt im Norden der Sinai-Halbinsel.

Die tatsächliche Grenze Israels verlief im Alten Testament also noch sehr weit weg vom Nil. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass das Alte Israel jemals einen Anspruch auf das Gebiet westlich des „Grenzbaches Ägyptens“ erhoben hätte.

Es legt sich nahe, dass mit dem „Strom Ägyptens“ in Genesis 15,18 dasselbe Gewässer gemeint ist wie der „Bach Ägyptens“ an anderen Stellen. Möglicherweise stand in Genesis 15,18 auch ursprünglich „Bach“ (נַחַל / naḥal) was vielleicht durch einen Abschreibfehler zu „Strom“ (נָהָר / nahar) geworden ist. Vielleicht hat auch die Gegenüberstellung zum „großen Strom, dem Eufratstrom“ zur Formulierung „Strom Ägyptens“ geführt. Zu bedenken ist auch, dass der „große Strom“ Eufrat kleiner als der Nil ist.

Die Verheißung an Abraham in Genesis 15 hat Gott schon in alttestamentlicher Zeit durch die Landnahme von Josua bis David erfüllt. Sie hat mit der derzeitigen politischen Situation nichts zu tun. Man kann auch nicht einfach den derzeitigen säkularen Staat Israel als Fortführung des alttestamentlichen Königreichs Israel sehen. (Mehr dazu in diesem Beitrag.) Fantasiekarten eines Groß-Israel zwischen Nil und Euphrat können nicht mit Genesis 15,18 begründet werden – ob sie nun von Zionisten oder von Gegnern Israels stammen mögen.

Seit dem Kommen Jesu hat Abraham nicht nur leibliche Nachkommen. Menschen aus allen Völkern können durch den Glauben an Jesus zu geistlichen Kindern Abrahams werden. Überall auf der ganzen Welt, nicht nur zwischen Nil und Euphrat.

Erkennt also: Die aus dem Glauben leben, sind Söhne Abrahams. (Galater 3,7)

(Bildquelle: https://currentaffairs.adda247.com/greater-israel-map/)

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