3 Wir verlesen dir von der Kunde über Mūsā und Firʿaun der Wahrheit entsprechend, für Leute, die glauben. 4 Gewiß, Firʿaun zeigte sich überheblich im Land und machte seine Bewohner zu Lagern, von denen er einen Teil unterdrückte, indem er ihre Söhne abschlachtete und (nur) ihre Frauen am Leben ließ. Gewiß, er gehörte zu den Unheilstiftern. (Sure 28,3-4)
Liest man diesen Text ohne Kenntnis des biblischen Hintergrunds, nimmt man an, dass Firʿaun aus irgendwelchen willkürlichen Gründen sein Volk in zwei Lager gespalten hat.
Der ältere biblische Text dazu steht im Buch Exodus:
1 Das sind die Namen der Söhne Israels, die nach Ägypten gekommen waren – mit Jakob waren sie gekommen, jeder mit seiner Familie: […] 7 Aber die Söhne Israels waren fruchtbar, sodass das Land von ihnen wimmelte. Sie vermehrten sich und wurden überaus stark; sie bevölkerten das Land. 8 In Ägypten kam ein neuer König an die Macht, der Josef nicht gekannt hatte. 9 Er sagte zu seinem Volk: Seht nur, das Volk der Israeliten ist größer und stärker als wir. 10 Gebt Acht! Wir müssen überlegen, was wir gegen es tun können, damit es sich nicht weiter vermehrt. Wenn ein Krieg ausbricht, könnte es sich unseren Feinden anschließen, gegen uns kämpfen und aus dem Lande hinaufziehen. 11 Da setzte man Fronvögte über es ein, um es durch schwere Arbeit unter Druck zu setzen. Es musste für den Pharao die Städte Pitom und Ramses als Vorratslager bauen. 12 Je mehr man es aber unter Druck hielt, umso stärker vermehrte es sich und breitete sich aus. Da packte sie das Grauen vor den Israeliten. 13 Die Ägypter gingen hart gegen die Israeliten vor und machten sie zu Sklaven. 14 Sie machten ihnen das Leben schwer durch harte Arbeit mit Lehm und Ziegeln und durch alle möglichen Arbeiten auf den Feldern. So wurden die Israeliten zu harter Sklavenarbeit gezwungen. 15 Zu den hebräischen Hebammen – die eine hieß Schifra, die andere Pua – sagte der König von Ägypten: 16 Wenn ihr den Hebräerinnen Geburtshilfe leistet, dann achtet auf das Geschlecht! Ist es ein Knabe, so lasst ihn sterben! Ist es ein Mädchen, dann kann es am Leben bleiben. […] 22 Daher gab der Pharao seinem ganzen Volk den Befehl: Alle Knaben, die den Hebräern geboren werden, werft in den Nil! Die Mädchen dürft ihr alle am Leben lassen. (Exodus 1,1.7-16.22)
Der koranische Text ist wesentlich kürzer als der biblische Text. Er dient als Einleitung zu einem längeren Text, der in 28,3-43 die Geschichte Moses erzählt, dabei aber kein einziges Mal das Volk Israel erwähnt. Menschen mit Hintergrundwissen konnten natürlich aus der Nennung der Namen Mose und Pharao entnehmen, dass es um Israel und Ägypten gehen musste. Aus dem Text der 28. Sure gewinnt man jedoch den Eindruck, dass von verschiedenen „Lagern“ oder „Parteien“ im Volk des Pharao die Rede ist.
Abu-r-Rida übersetzt Vers 4 so:
Wahrlich, Pharao betrug sich hochmütig im Land und spaltete dessen Bewohner in Parteien. Eine Gruppe von ihnen pflegte er zu unterdrücken, indem er ihre Söhne abschlachtete und ihre Frauen am Leben ließ. Wahrlich, er war einer der Unheilstifter!
Nach der koranischen Darstellung war es der Pharao, der die Bewohner des Landes, die zuvor in Einheit waren, gespaltet hat.
In der zweiten Sure wird diese Situation auch erwähnt. Dort erfährt der Leser, dass es um Israel geht.
47 O Kinder Isrāʾīls, gedenkt Meiner Gunst, die Ich euch erwiesen habe, und daß Ich euch vor den (anderen) Weltenbewohnern bevorzugt habe. […] 49 Und (gedenkt,) als Wir euch von den Leuten Firʿauns erretteten, die euch eine böse Qual auferlegten, indem sie eure Söhne allesamt abschlachteten und (nur) eure Frauen am Leben ließen. Darin war für euch eine gewaltige Prüfung von eurem Herrn. (Sure 2,47.49)
Im Koran ist man grundsätzlich mit dem Problem konfrontiert, dass es sehr schwer ist, eine systematische oder historische Struktur zu finden. Außerdem sind die Suren nicht in der Reihenfolge ihrer „Herabsendung“ angeordnet. Der Überlieferung zufolge wurde die 28. Sure in Mekka „herabgesandt“, die zweite Sure stammt aber aus der Zeit in Medina, wurde also erst später geschrieben.
Wer nur die 28. Sure kannte, musste vor der Abfassung der zweiten Sure denken, dass es um unterschiedliche Parteien der ägyptischen Bevölkerung ging.
Interessant ist auch die Erklärung des Tafsīr Al-Qur’ān Al-Karīm zu Sure 28,4:
Bevor die eigentliche Geschichte beginnt, werden zuerst die Umstände erläutert, die die Ereignisse begleiteten. Wer dieser Pharao war, ist nicht genau definiert, da nicht die historische Festsetzung das Ziel der qur’ānischen Geschichten darstellt und ihre Bedeutung nicht zu bereichern vermag. Uns genügt, zu wissen, dass diese Ereignisse sich nach der Zeit Yūsufs abspielten, der seinen Vater und seine Brüder hatte nachkommen lassen, und dass diese Kinder Israels die Nachkommen Israels (Jakobs) waren, die sich in Ägypten stark vermehrt und sich zu einem großen Volk entwickelt hatten (vgl. Sura 12). Nachdem Pharao diesen Anteil der Bevölkerung, deren Anzahl auf mehrere hunderttausend angewachsen war, nicht vertreiben konnte, um nicht seine Feinde in den Nachbarländern durch diese zu mehren, suchte er mit üblen Mitteln dieser Gefahr zu begegnen. Er zwang die Kinder Israels, gefährliche und beschwerliche Arbeiten zu verrichten, erniedrigte sie und folterte sie. Schließlich ging er dazu über, ihre männlichen Kinder zu töten, die weiblichen hingegen am Leben zu lassen, weil durch einen Hellseher des Pharaos übermittelt wurde, dass sein Untergang durch die Hilfe eines Mannes aus dem Volk der Kinder Israels vollzogen werde.
Der Sure 28 kann man nicht entnehmen, dass diese Ereignisse sich nach der Zeit Yūsufs abspielten. Außerdem wurde der islamischen Tradition zufolge die 12. Sure, auf die sich die Erklärung beruft, zwar auch in Mekka verfasst, aber erst nach Sure 28. In der 12. Sure steht auch nicht, dass sich Jakobs Familie und deren Nachkommen dauerhaft in Ägypten niedergelassen haben. In 12,99 heißt es:
Als sie nun bei Yūsuf eintraten, zog er seine Eltern an sich und sagte: „Betretet Ägypten, wenn Allah will, in Sicherheit.“
Es ist nur von der Einladung Josefs an seine Eltern nach Ägypten die Rede. Dass die Nachkommen Jakobs dann für mehrere Generationen dortgeblieben sind, wird nicht erwähnt. Überdies lebte damals von den Eltern Josefs nur mehr der Vater. Seine Mutter war nach Genesis 35,16-20 bei der Geburt Benjamins im Land Kanaans gestorben. Aber das wusste der Verfasser der zwölften Sure offensichtlich nicht.
Die Erklärung dieses Tafsirs schöpft nicht nur aus dem Koran, sondern auch aus der Bibel, die natürlich unerwähnt bleibt.
Mir ist nicht klar, warum der Verfasser der 28. Sure nicht geschrieben hat, dass es um das Volk Israel in Ägypten ging. Es musste ihm bekannt gewesen sein. Wollte er das Volk Israel möglichst unerwähnt lassen, weil er die Juden ablehnte? Oder wollte er eine Parallele zu seiner Zeit ziehen, als es innerhalb des arabischen Volkes unterschiedliche Parteien gab? Die einen waren für Mohammed, die anderen gegen ihn.
Eines ist klar: Ohne biblisches Hintergrundwissen kann man manches im Koran nur schwer oder gar nicht verstehen.