Die Mitgefangenen von Paulus

In dreien seiner Briefe erwähnt Paulus „Mitgefangene“.1

Grüßt Andronikus und Junias, meine Verwandten und meine Mitgefangenen, die unter den Aposteln ausgezeichnet sind, die schon vor mir in Christus waren! (Römer 16,7)

Es grüßt euch Aristarch, mein Mitgefangener, und Markus, der Vetter des Barnabas, dessentwegen ihr Befehle erhalten habt, – wenn er zu euch kommt, so nehmt ihn auf – […] (Kolosser 4,10)

Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christus Jesus, […] (Philemon 23)

An diesen drei Stellen steht im Griechischen das Wort συναιχμάλωτος / synaichmálōtos. Es setzt sich zusammen aus den Teilen συν- / syn- („mit“) und αιχμάλωτος / aichmálōtos („Gefangener“). Das letztere Wort kommt im NT nur noch in Lukas 4,18 vor:

Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze […]

Jesus las diese Stelle aus Jesaja 61,1 in der Synagoge von Nazareth.

Im Jesajabuch war bei der Befreiung der Gefangenen wohl vor allem an die Befreiung aus dem babylonischen Exil gedacht. Im Munde Jesu ging es um die Befreiung von Bindungen, die den Menschen von Gott trennen.

Wie hat Paulus den Begriff „Mitgefangener“ verstanden?

Als er den Römerbrief schrieb, war er in Korinth und nicht im Gefängnis. Andronikus und Junia waren außerdem nicht bei Paulus, sondern bei den Empfängern des Briefes. Deswegen verweist die Einheitsübersetzung auf eine frühere Gefangenschaft:

[…] die zu meinem Volk gehören und mit mir zusammen im Gefängnis waren […]

Aristarch, den Paulus in Kolosser 4,10 seinen Mitgefangenen nennt, kommt auch im Philemonbrief vor.

23 Es grüßen dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christus Jesus, 24 Markus, Aristarch, Demas und Lukas, meine Mitarbeiter. (Philemon 23-24)

Umgekehrt lesen wir über Epaphras, der im Philemonbrief als Mitgefangener seine Grüße sendet, im Kolosserbrief:

7 So habt ihr es von Epaphras, unserm geliebten Mitknecht, gelernt. Er ist für euch ein treuer Diener Christi 8 und er hat uns auch von der Liebe berichtet, die der Geist in euch bewirkt hat. (Kolosser 1,7-8)

12 Es grüßt euch Epaphras, der Knecht Christi Jesu, einer von euch. Immer kämpft er für euch im Gebet, dass ihr vollkommen werdet und ganz durchdrungen seid vom Willen Gottes. 13 Ich bezeuge ihm, dass er sich große Mühe gibt um euch und um die Gläubigen in Laodizea und Hiërapolis. (Kolosser 4,12-13)

Epaphras war der Mitarbeiter von Paulus, der den Kolossern das Evangelium gebracht hat. Er war zur Zeit der Abfassung des Kolosserbriefs bei Paulus und kämpfte dort im Gebet für die Gemeinde in Kolossä, die Gott durch sein Wirken entstehen ließ.

Es spricht einiges dafür, dass der Philemonbrief und der Kolosserbrief zu etwa derselben Zeit von Paulus geschrieben und gemeinsam durch Tychikus und Onesimus nach Kolossä geschickt wurden.

7 Was mich betrifft, wird euch Tychikus, der geliebte Bruder und treue Diener und Mitknecht im Herrn, alles berichten. 8 Ihn habe ich eigens zu euch gesandt, damit ihr alles über uns erfahrt und er eure Herzen ermutige. 9 Er kommt mit Onesimus, dem treuen und geliebten Bruder, der ja einer von euch ist. Sie werden euch über alles berichten, was hier vor sich geht. (Kolosser 4,7-9)

10 ich bitte dich für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin. 11 Einst war er dir unnütz, jetzt aber ist er dir und mir recht nützlich. 12 Ich schicke ihn zu dir zurück, ihn, das bedeutet mein Innerstes. (Philemon 10-12)

Wenn diese Annahme stimmt, stammen beide Briefe aus derselben Gefangenschaft von Paulus. Nun nennt Paulus in einem Brief Aristarch seinen Mitgefangenen, im anderen Brief aber Epaphras. Waren nun beide als seine Zellengenossen bei ihm oder keiner der beiden?

Aristarch wird dreimal in der Apostelgeschichte erwähnt.

Im Zusammenhang mit dem Aufruhr der Silberschmiede von Ephesus heißt es in Apostelgeschichte 19,29:

Die ganze Stadt geriet in Aufruhr; alles stürmte ins Theater und sie schleppten die Mazedonier Gaius und Aristarch, Reisegefährten des Paulus, mit sich. 

Später begegnet Aristarch als Begleiter des Paulus auf der Reise von Korinth nach Mazedonien und anschließend wohl noch weiter nach Jerusalem.

Dabei begleiteten ihn Sopater, der Sohn des Pyrrhus, aus Beröa, Aristarch und Secundus aus Thessalonich, Gaius aus Derbe und Timotheus sowie Tychikus und Trophimus aus der Provinz Asien. (Apostelgeschichte 20,4)

Ebenso begleitete Aristarch Paulus auf seiner Reise als Gefangener nach Rom.

1 Als unsere Abfahrt nach Italien feststand, wurden Paulus und einige andere Gefangene einem Hauptmann der kaiserlichen Kohorte namens Julius übergeben. 2 Wir bestiegen ein Schiff aus Adramyttium, das die Orte entlang der Küste Kleinasiens anlaufen sollte, und fuhren ab; bei uns war Aristarch, der Mazedonier aus Thessalonich. (Apostelgeschichte 27,1-2)

Zwischen diesen beiden Reisen lag der Besuch in Jerusalem und die zwei Jahre dauernde Gefangenschaft von Paulus in Cäsarea. Paulus hatte dort für die damalige Zeit relativ leichte Haftbedingungen.

Den Hauptmann wies er (Felix) an, Paulus weiter in Gewahrsam zu halten, jedoch in leichter Haft, und niemanden von den Seinen daran zu hindern, ihm zu Diensten zu sein. (Apostelgeschichte 24,23)

Während der Gefangenschaft in Cäsarea konnten seine Mitarbeiter und andere Glaubensgeschwister Paulus besuchen. So konnten auch Aristarch, Epaphras, Demas, Markus und Lukas und andere mit Paulus Gemeinschaft haben, ohne selbst Gefangene zu sein.

Wenn nun, was ich annehme, Paulus die Briefe an die Kolosser und an Philemon aus Cäsarea geschrieben hat, waren damals weder Aristarch noch Epaphras als Mitgefangene bei ihm. Nach den Berichten der Apostelgeschichte gab es neben Paulus keinen seiner Mitarbeiter als Gefangenen in Cäsarea. Wenn Paulus Aristarch und Epaphras seine „Mitgefangenen“ nennt, heißt das wohl, dass die beiden Brüder früher mit ihm gemeinsam im Gefängnis waren, entweder beide zugleich mit ihm oder jeweils einer bei unterschiedlichen Gefangenschaften. Bei den in Römer 16,7 genannten Andronikus und Junia konnte ohnehin nur eine frühere Gefangenschaft gemeint sein.

Im 2. Korintherbrief erwähnt Paulus, dass er häufig im Gefängnis war:

4 In allem empfehlen wir uns als Gottes Diener: durch große Standhaftigkeit, in Bedrängnis, in Not, in Angst, 5 unter Schlägen, in Gefängnissen, in Zeiten der Unruhe, unter der Last der Arbeit, in durchwachten Nächten, durch Fasten, […] (2 Korinther 6,4-5)

Sie sind Diener Christi – jetzt rede ich ganz unvernünftig -, ich noch mehr: Ich ertrug mehr Mühsal, war häufiger im Gefängnis, wurde mehr geschlagen, war oft in Todesgefahr. (2 Korinther 11,23)

Diese Gefängnisaufenthalte waren meist wohl eher kurz, wie z. B. die Nacht im Kerker von Philippi (Apostelgeschichte 16,23-40).

Da wir über diese Gefängnisaufenthalte von Paulus nichts Konkretes wissen, kann man auch nicht sagen, wann die in seinen Briefen genannten Mitgefangenen mit Paulus im Gefängnis waren.

Da laut Apostelgeschichte 19,29 Aristarch beim Aufruhr in Ephesus ins Theater mitgeschleppt wurde, könnte man daran denken, dass er damals kurzfristig im Gefängnis war. Doch damals war nach der Darstellung der Apostelgeschichte Paulus nicht im Gefängnis. Oder könnte Paulus Aristarch seinen Mitgefangenen nennen, weil er für Christus im Gefängnis war, auch wenn in der konkreten Situation Paulus in Freiheit verblieb?

Wenn die Empfänger von Römer 16 in Ephesus zu suchen sind, könnten auch Andronikus und Junia einmal mit Paulus in Ephesus im Gefängnis gewesen sein. Doch das sind nur Vermutungen.

In eine völlig andere Richtung geht die Erklärung von Norbert Baumert und Maria-Irma Seewann.2 Sie nehmen an, dass Paulus bei der Abfassung der Briefe an die Kolosser, an die Epheser und an Philemon nicht im Gefängnis war. Nur der Brief an die Philipper und der 2. Timotheusbrief seien „Gefangenschaftsbriefe“. Sie datieren Kolosser, Epheser und Philemon sehr früh und verstehen die Selbstbezeichnungen von Paulus als „Gebundener“ Christi nicht als einen Hinweis auf eine Gefangenschaft, sondern dass sich Paulus als „ein von Christus im Geist Gebundener“ vorstellt. Dementsprechend seien auch die „Mitgefangenen“

seine „Mitgefangenen“ im geistlichen Sinn, nämlich mit ihm von Christus ‚gefangen‘.

Sie weisen darauf hin, dass diese Mitgefangenen nicht akut mit Paulus im Gefängnis waren. Wenn Epaphras in Kolosser 1,7 ein „Mit-Sklave“ genannt wird, ist das

doch nicht physisch gemeint, sondern geht von der gemeinsamen Erfahrung des ‚Sklave-Christi-Seins‘ aus!

Auch bei Andronikus und Junia / Julia in Römer 16,7 sehen die Autoren das so:

Paulus fügt zu den „unter den Aposteln angesehenen Mitkriegsgefangenen Andronikus und Julia“ (ein Ehepaar?) noch hinzu, dass sie „vor ihm zu Christus gekommen sind“. […] Es lässt auf Begegnungen schließen, bei denen seinerzeit beide Seiten ihre Berufung als eine Art Gefangennahme im Geist erfahren haben – wobei Paulus anerkennt, dass die beiden vor ihm ‚in Christus‘ waren.

Wenn nun Paulus mit dem Wort „Mitgefangener“ nur eine gemeinsame Gebundenheit an Christus meint, warum nennt er dann nur diese vier Geschwister so? Es gab doch noch andere Mitarbeiter, mit denen er eine gemeinsame Bindung an Christus hatte. Warum nennt er nicht auch noch andere seiner Mitarbeiter und Mitkämpfer so? Mir erscheint diese Argumentation nicht schlüssig. Paulus erinnerte in seinen Briefen daran, dass diese Brüder tatsächlich mit ihm in seinen Verfolgungen das Los der Gefangenschaft teilten. Das gemeinsame Ertragen der Verfolgung hat ihre Beziehungen zu Christus und zueinander gestärkt.

Darum werden wir nicht müde; wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert.
(2 Korinther 4,16)


  1. Weil die Einheitsübersetzung Römer 16,7 eher frei wiedergibt, habe ich nach der Revidierten Elberfelder Übersetzung zitiert. Statt des Männernamens „Junias“ ist in Römer 16,7 nach antikem Zeugnis der Frauenname „Junia“ oder nach Papyrus 46 „Julia“ zu lesen. 
  2. Norbert Baumert, Maria-Irma Seewann, Israels Berufung für die Völker, Würzburg 2016, S. 369-376. Exkurs 1 „Gefangener Christi“. 

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