In der Thora
In der Thora begegnen wir an drei Stellen der Regel „Auge für Auge, Zahn für Zahn!“
23 Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, 24 Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, 25 Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme. (Exodus 21,23-25)
Im Zusammenhang geht es um eine Rauferei zwischen zwei Männern, bei der eine schwangere Frau bzw. deren ungeborene Kinder zu Schaden kommen.
Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau treffen, sodass ihre Kinder abgehen, ohne dass ein weiterer Schaden entsteht, dann muss der Täter eine Buße zahlen, die ihm der Ehemann der Frau auferlegt; er muss die Zahlung nach dem Urteil von Schiedsrichtern leisten. (Exodus 21,22)
Die unbeabsichtigte Tötung des Ungeborenen wird durch eine finanzielle Entschädigung abgegolten. Im Gesetzestext wird dann in den Versen 23-25 ausgeführt, was bei weiterem Schaden zu geschehen hat.
Dass die Tötung eines Menschen mit der Todesstrafe geahndet wird, ist eine Regel, die man beginnend mit Noach quer durch das ganze Alte Testament findet.
Wer Blut eines Menschen vergießt, um dieses Menschen willen wird auch sein Blut vergossen. Denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht. (Genesis 9,6)
Bedeuten die weitergehenden Ausführungen das Auge oder den Zahn oder die anderen Schädigungen betreffend, dass der Täter mit einer entsprechenden Verstümmelung zu rechnen hatte? Moderne Erklärer gehen davon aus, dass es sich um Wiedergutmachungszahlungen handelt, im konkreten Fall der schwangeren Frau sogar für den Fall, dass die Frau zu Tode gekommen wäre, da ihre Tötung nicht absichtlich geschah. Für den Fall einer unabsichtlichen Tötung sah dasselbe Gesetz in Exodus 21,13 die Möglichkeit einer Flucht in eine Asylstadt vor.
Für Körperverletzungen sieht Exodus 21,18-19 eine Entschädigungszahlung vor.
18 Wenn Männer in Streit geraten und einer den andern mit einem Stein oder einer Hacke verletzt, sodass er zwar nicht stirbt, aber bettlägerig wird, 19 später wieder aufstehen und mit Krücken draußen umhergehen kann, so ist der freizusprechen, der geschlagen hat; nur für die Arbeitsunfähigkeit des Geschädigten muss er Ersatz leisten und er muss für die Heilung aufkommen.
Weiters wird angeführt, dass das Wort „geben“ in Vers 23 für eine finanzielle Entschädigung spricht.
Weiter ausgeführt findet man die Argumentation im Artikel „Recht“ auf bibelwissenschaft.de unter Punkt 4.
Mir scheint die Argumentation einerseits schlüssig zu sein. Andererseits würde ich mir erwarten, dass doch etwas deutlicher ausgeführt wird, dass eine Ersatzzahlung zu leisten ist. Der Geschädigte hat auf jeden Fall mehr von einer Entschädigung als von einer Verstümmelung des Täters. Wir finden im Alten Testament auch kein Beispiel dafür, dass jemandem als Bestrafung tatsächlich ein Auge entfernt oder ein Zahn ausgeschlagen worden wäre.
Allerdings sprechen die beiden anderen Stellen, in denen vom sogenannten Talionsgesetz die Rede ist, gegen die soeben angeführte Erklärung.
17 Wer einen Menschen erschlägt, hat den Tod verdient. 18 Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen: Leben für Leben. 19 Wenn jemand einen Mitbürger verletzt, soll man ihm antun, was er getan hat: 20 Bruch für Bruch, Auge für Auge, Zahn für Zahn. Der Schaden, den er einem Menschen zugefügt hat, soll ihm zugefügt werden. 21 Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen; wer aber einen Menschen erschlägt, wird getötet. (Levitikus 24,17-21)
Hier heißt es in Vers 19: […] soll man ihm antun, was er getan hat.
Auch die Formulierung am Schluss von Vers 20 legt nahe, dass der Schaden dem Täter zugefügt werden muss.
In den Versen 18 und 21, wo es um Tiere geht, vom Ersetzen die Rede, allerdings jeweils im Gegensatz zum Töten eines Menschen.
21 Und du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen: Leben um Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß. (Deuteronomium 19,21)
Hier ist der Zusammenhang eine Falschaussage, die einem Unschuldigen das Leben kosten könnte.
16 Wenn jemand vor Gericht geht und als Zeuge einen andern zu Unrecht der Anstiftung zum Aufruhr bezichtigt, 17 wenn die beiden Parteien mit ihrem Rechtsstreit vor den HERRN hintreten, vor die Priester und Richter, die dann amtieren, 18 wenn die Richter eine genaue Ermittlung anstellen und sich zeigt: Der Mann ist ein falscher Zeuge, er hat seinen Bruder fälschlich bezichtigt, 19 dann sollt ihr mit ihm so verfahren, wie er mit seinem Bruder verfahren wollte. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. 20 Die Übrigen sollen davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal ein solches Verbrechen in deiner Mitte begehen. 21 Und du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen: Leben um Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß. (Deuteronomium 19,16-21)
Diese böswillige Anklage war als Mordversuch zu werten und wurde daher wie Mord bestraft. Die Aussagen über Auge, Zahn, Hand und Fuß erscheinen wie eine Anfügung. Zumindest haben sie mit dem im Zusammenhang genannten Fall direkt nichts zu tun. Es ist daher nicht so klar, wie es gemeint ist. Als unbefangener Leser würde man es eher so verstehen, dass dem Übeltäter tatsächlich die entsprechenden Körperteile zerstört werden sollten. Doch wenn im damaligen Umfeld jedem klar war, dass damit eine Entschädigungszahlung gemeint war, kann man Deuteronomium 19 auch so verstehen.
Zu bedenken ist, dass es auch bei einem wörtlichen Verständnis dieser drei Stellen um eine Eingrenzung der Strafe ging. Die Strafe soll nicht übermäßig sein, wie es etwa in einem Wort von Lamech heißt:
Lamech sagte zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, ihr Frauen Lamechs, horcht meiner Rede! Ja, einen Mann erschlage ich für meine Wunde und ein Kind für meine Strieme. (Genesis 4,23)
Im Vergleich zur Tötung für eine Wunde ist die Zufügung einer gleichwertigen Wunde schon eine „Humanisierung“ der Strafe.
Zum jüdischen Verständnis heißt es bei Strack-Billerbeck1:
Ob das jus talionis in Jesu Tagen nach dem Buchstaben der Gesetzesvorschrift Ex 21,23ff.; Lv 24,19f. gehandhabt worden ist, läßt sich aus der rabbin. Literatur nicht beweisen. […] Nach Josephus hätte es vom Belieben des Verletzten abgehangen, ob die Verletzung durch eine Geldbuße oder durch die buchstäbliche Vollziehung der talio zu sühnen sei. Die Mischna fordert, abgesehen von der Bestrafung der falschen Zeugen, nur Geldentschädigung.
Flavius Josephus wird wie folgt zitiert:
Antiquitates 4,8,35: Wer verstümmelt (das Auge geblendet) hat, soll das Gleiche erleiden, indem er dessen beraubt wird, wessen er einen anderen beraubt hat, es sei denn, daß der Verstümmelte vorzieht, eine Geldentschädigung zu nehmen. Denn das Gesetz gibt dem, der den Schaden erlitten hat, Vollmacht, den Schaden, den er erfahren hat, abzuschätzen, und gesteht ihm dies zu, wenn er nicht schärfer vorgehen will (d. h., die Verstümmelung des Verstümmlers fordert).
In späterer Zeit haben die Rabbiner alle drei Stellen so verstanden, dass es um eine Kompensation mit Geld geht. Siehe z. B. die Erklärungen von Raschi aus dem 11. Jahrhundert hier, hier und hier.
Im Evangelium
38 Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. 39 Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin
(Matthäus 5,38-39)
In der Bergpredigt hat Jesus auf die tiefere Intention des Gesetzes hingewiesen. Es geht nicht um das Befolgen des Buchstabens, sondern um das Verständnis des Willens Gottes. Die Regel „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ wurde anscheinend im Sinne der Rache verstanden, was nicht ihre ursprüngliche Intention war. Es ging in der Thora auch nicht um die persönliche Rache, sondern um ordentliche Strafverfahren.
Jesu Jünger sollen sich nicht rächen, sondern auch ihren Feinden mit Liebe begegnen. Jesus hat das mit dem Beispiel der Wange, die man dem Gegner hinhalten soll, illustriert. Das ist jedoch nicht als eine direkte Handlungsanweisung zu verstehen, die man buchstäblich zu befolgen hat, wie es Jesus an seinem eigenen Beispiel gezeigt hat. Mehr dazu hier.
Da das Reich Jesu nicht von dieser Welt ist (Johannes 18,36), gibt es auch kein christliches Staatswesen mit Gerichten oder Strafanstalten. Die Frage, wie das Talionsgesetz aus der Thora angewendet werden soll, stellt sich daher im Kreis der Jünger nicht. Christen unterstellen sich dem jeweiligen Rechtssystem des Landes, in dem sie leben. Das Leben der Jünger Jesu soll das Leben ihres Herrn widerspiegeln. Sie sollen ihren Mitmenschen mit Liebe und Wohlwollen begegnen, keinesfalls mit einer von Rachsucht bestimmten Gesinnung.
Das lesen wir auch in den Schriften der Apostel:
19 Übt nicht selbst Vergeltung, Geliebte, sondern lasst Raum für das Zorngericht Gottes; denn es steht geschrieben: Mein ist die Vergeltung, ich werde vergelten, spricht der Herr. 20 Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. 21 Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute! (Römer 12,19-21)
Vergeltet Böses nicht mit Bösem oder Schmähung mit Schmähung! Im Gegenteil: Segnet, denn dazu seid ihr berufen worden, dass ihr Segen erbt. (1 Petrus 3,9)
Im Koran
44 Gewiß, Wir haben die Thora hinabgesandt, in der Rechtleitung und Licht sind […] 45 Und Wir haben ihnen darin vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn; und (auch) für Verwundungen Wiedervergeltung. Wer es aber als Almosen erläßt, für den ist es eine Sühne. Wer nicht nach dem waltet, was Allah (als Offenbarung) herabgesandt hat, das sind die Ungerechten. (Sure 5,44a.45)
Auch im Koran wird nicht genau gesagt, wie diese Vergeltung ausgeführt werden soll. Es wird die Möglichkeit erwähnt, „es als Almosen zu erlassen“. Im Tafsīr Al-Qur’ān Al-Karīm heißt es dazu:
Diese strafrechtlichen Bestimmungen der Thora gelten entsprechend im islamischen Recht und werden in ihrem Kern verwendet, jedoch unter Vorbehalt, dass das Opfer einer verbrecherischen Tat dem Täter als Sühne für sich selbst vergeben kann. Dies entspricht der Vergebungslehre von Jesus und Muḥammad. Denn unser Prophet (a.s.s.) sagte: ”Wenn jemand einen anderen verletzt und dieser auf die Vergeltung verzichtet, werden ihm soviel von seinen Sünden getilgt, wie seine Vergebung ausmacht.“
Anders als Jesus hat Mohammed ein Staatswesen begründet. Es gibt daher auch ein islamisches Recht. Im islamischen Recht wird die Vergeltung nach dem Talionsgesetz wörtlich ausgeführt.
Unter Berufung auf Ibn Ruschd (Averroes 1126-1198) heißt es in einem anderen Tafsir (S. 130):
Ibn Ruschd: „Dies gilt für Stellen, wo eine Wiedervergeltung möglich ist, und wo man nicht befürchten muss, dass der Betreffende daran stirbt.“ D.h. also, wenn jemand einem anderen mit Absicht die Hand abgeschnitten hat, dann hat das Opfer das Recht, Wiedervergeltung zu üben, und zu fordern, dass auch beim Täter dessen Hand abgeschnitten wird. Das Opfer kann aber auch ein Schmerzensgeld akzeptieren oder auch gänzlich verzeihen.
Diese Regelung entspricht der Situation, wie sie Flavius Josephus dargestellt hat.
Wir sehen also, dass der Islam wieder auf den Zustand, der vor Jesus gegeben war, zurückgreift. Das Neue, das Jesus gebracht hat, ist an Mohammed und seinen Nachfolgern in diesem Punkt spurlos vorbeigegangen. Sie wollten wieder einen Gottesstaat errichten. Mit dem Verständnis des Reiches Gottes, so wie es Jesus verkündet hat, konnten oder wollten sie nichts anfangen. Die herzens- und lebensverändernde Kraft, die Gott in seinem Sohn Jesus Christus schenkt, blieb ihnen verschlossen.
Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2 Korinther 5,17)
- Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch von Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, München 1922, S. 373. ↩