Ich habe mich sehr gefreut, unter deinen Kindern solche zu finden, die in der Wahrheit wandeln, gemäß dem Gebot, das wir vom Vater empfangen haben. (2 Johannes 4)
Johannes drückte in diesem Brief an eine namentlich nicht genannte Gemeinde seine Freude darüber aus, dass er in ihr solche findet, die in der Wahrheit wandeln.
In der Elberfelder Übersetzung lautet dieser Vers so:
Ich habe mich sehr gefreut, dass ich von deinen Kindern ⟨einige⟩ gefunden habe, die in ⟨der⟩ Wahrheit wandeln, wie wir von dem Vater ein Gebot empfangen haben.
Hier gewinnt man aus dem in Klammern eingefügten Wort „einige“ den Eindruck, dass diejenigen, die in der Wahrheit wandelten, in der Minderzahl waren. Das muss wohl nicht angenommen werden. Sonst hätte Johannes nicht seine Freude darüber ausgedrückt.
Der griechische Ausdruck ἐκ τῶν τέκνων σου / ek tōn téknōn su („aus / unter deinen Kindern“) besagt aber, dass nur ein Teil der „Kinder“ gemeint ist.
Heute ist es ja der Normalfall, dass unter denen, die sich Christen nennen, nur ein kleiner Teil die Grundlehren des Christentums glaubt und noch weniger auch ihr Leben danach ausrichten. Doch ist das keinesfalls der Wille Gottes. In der Gemeinde der apostolischen Zeit war es selbstverständlich, dass nur Jünger Jesu Christen genannt wurden.
In Antiochia nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen. (aus Apostelgeschichte 11,26)
Ein Jünger ist nur jemand, der Jesus nachfolgt. Das geht ohne Wahrheit nicht.
31 Da sagte er zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. 32 Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien. (Johannes 8,31-32)
Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. (Johannes 18,37b)
8 Denn einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn. Lebt als Kinder des Lichts! 9 Denn das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor. (Epheser 5,8-9)
Wollte Johannes seine Freude darüber ausdrücken, dass es in der Gemeinde Christen gab?
Man könnte das Problem so lösen, dass man den Brief nicht an eine Gemeinde, sondern an eine Privatperson gerichtet versteht.
Der Älteste an die auserwählte Herrin und an ihre Kinder, die ich in Wahrheit liebe; aber nicht nur ich, sondern auch alle, die die Wahrheit erkannt haben, lieben sie […] (2 Johannes 1)
Diese Erklärung wird in manchen konservativen Kreisen, wie z. B. hier, vertreten. Manchmal wird angenommen, dass der Name der Frau, an die Johannes den Brief geschrieben hat, Kyria („Herrin“) war.
Wenn Johannes den Brief an eine Frau, die Mutter einiger Kinder war, schrieb, konnte er seine Freude darüber ausdrücken, dass mehrere ihrer Kinder, wenn auch nicht alle, als Christen in der Wahrheit wandeln. Damit wäre das Problem gelöst.
Laut dem Wörterbuch von Bauer ist „Kyria“ als Eigenname selten und spät belegt, ohne näher auszuführen, was „spät“ heißt. Wenn es sich um keinen Namen handelt, hätte Johannes eine Gläubige als „Herrin“ angesprochen. Das war die Art, wie eine Sklavin ihre Besitzerin angeredet hat. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Apostel diese Anrede für eine Christin verwendet.
In Vers 13 schließt Johannes den Brief mit diesen Worten:
Es grüßen dich die Kinder deiner auserwählten Schwester.
Wenn der Brief an eine Frau, die möglicherweise Kyria hieß, gerichtet worden wäre, dann hätte sich Johannes zur Zeit der Abfassung bei der Schwester dieser Frau oder vielleicht nur bei ihren Kindern aufgehalten. Es grüßen ja nur die Kinder, nicht aber die Schwester.
Alle diese Gründe machen es nicht sehr wahrscheinlich, dass der Brief an eine Einzelperson gerichtet war. Die „auserwählte Herrin“ war eine Gemeinde, die vielleicht wegen ihrer Beziehung zum Herrn so genannt wurde. Ihre „Kinder“, die der Apostel in Wahrheit liebt, waren die Gläubigen dieser Gemeinde. Ebenso waren die in Vers 13 genannten Kinder der auserwählten Schwester die Gläubigen der Gemeinde, in der Johannes damals war.
Die Formulierung „in der Wahrheit wandeln“ finden wir auch im 3. Johannesbrief zweimal:
3 Denn ich habe mich sehr gefreut, als Brüder kamen, die für deine Treue zur Wahrheit Zeugnis ablegten und berichteten, wie du in der Wahrheit wandelst. 4 Ich habe keine größere Freude, als zu hören, dass meine Kinder in der Wahrheit wandeln. (3 Johannes 3-4)
Hier drückt Johannes seine Freude darüber aus, dass Gaius, der Empfänger des Briefes, in der Wahrheit wandelt. Das scheint mehr zu meinen, als dass Gaius Christ ist, was natürlich auch immer wieder ein Grund zur Freude ist. In den Versen 5-6 schreibt Johannes über das vorbildliche Verhalten von Gaius.
Vielleicht meint Johannes auch im zweiten Brief mit dem Ausdruck „in der Wahrheit wandeln“ einen besonderen Einsatz für die Wahrheit. In Vers 7 schreibt er über Verführer:
Denn viele Verführer sind in die Welt hinausgegangen, die nicht den im Fleisch gekommenen (eigentlich: kommenden) Jesus Christus bekennen. Das ist der Verführer und der Antichrist.
Wollte Johannes zum Ausdruck bringen, dass es in der Empfängergemeinde einige gibt, die sich in der Abwehr der Verführer besonders eingesetzt und bewährt haben? Dass das „Wandeln“ in der Wahrheit in diesem Fall einen konkreten Kampf für die Wahrheit und gegen die Irrlehre bedeutete? Das würde dann nicht bedeuten, dass die anderen, die ihren Dienst in der Gemeinde treu verrichtet haben, aber im Einsatz gegen die Irrlehrer nicht so aktiv waren, keine Christen waren. Auch sie gingen den Weg der Nachfolge Jesu, waren aber vielleicht gefährdet. Das könnte man der Ermahnung von Vers 8 entnehmen:
Achtet auf euch, damit ihr nicht preisgebt, was wir erarbeitet haben, sondern damit ihr den vollen Lohn empfangt!
Diese Ermahnung betraf wohl weniger diejenigen, die „in der Wahrheit wandelten“. Aber es war eine Ermahnung an die ganze Gemeinde, an dem, was sie vom Apostel gelernt haben, festzuhalten. Da sollten die Stärkeren den Schwächeren zur Seite stehen.
Im 1. Johannesbrief hat Johannes geschrieben, dass alle die Salbung (durch den Heiligen Geist) und das Wissen haben:
Und ihr habt die Salbung von dem Heiligen und habt alle das Wissen. (1 Johannes 2,20 Elberfelder)
Das war der Normalfall in allen Gemeinden, auch bei den Empfängern des 2. Briefes. Der Brief sollte eine Hilfe sein, dass es so bliebe und niemand sich von den Verführern von der Wahrheit abbringen ließe.