Ich habe euch gesandt zu ernten, wofür ihr euch nicht abgemüht habt; andere haben sich abgemüht und euch ist ihre Mühe zugutegekommen. (Johannes 4,38)
Jesus hat diese Worte am Jakobsbrunnen in Samaria zu seinen Jüngern gesprochen. Sie waren auf der Reise von Judäa nach Galiläa. Die Jünger waren vom Lebensmitteleinkauf zurückgekommen. Jesus sprach mit ihnen über seine Speise und über die Verkündigung, die er mit einer Ernte verglich.
31 Währenddessen baten ihn seine Jünger: Rabbi, iss! 32 Er aber sagte zu ihnen: Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt. 33 Da sagten die Jünger zueinander: Hat ihm jemand etwas zu essen gebracht? 34 Jesus sprach zu ihnen: Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden. 35 Sagt ihr nicht: Noch vier Monate dauert es bis zur Ernte? Sieh, ich sage euch: Erhebt eure Augen und seht, dass die Felder schon weiß sind zur Ernte! 36 Schon empfängt der Schnitter seinen Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben, sodass sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam freuen. 37 Denn hier hat das Sprichwort recht: Einer sät und ein anderer erntet. 38 Ich habe euch gesandt zu ernten, wofür ihr euch nicht abgemüht habt; andere haben sich abgemüht und euch ist ihre Mühe zugutegekommen. (Johannes 4,31-38)
Jesus sah eine reiche Ernte, die seine Jünger einzubringen haben. Im Zusammenhang geht es um Samaria. In den Folgeversen wird erzählt, dass viele an Jesus geglaubt haben, zuerst aufgrund des Zeugnisses der Frau, anschließend aber aufgrund seiner Worte.
39 Aus jener Stadt kamen viele Samariter zum Glauben an Jesus auf das Wort der Frau hin, die bezeugt hatte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. 40 Als die Samariter zu ihm kamen, baten sie ihn, bei ihnen zu bleiben; und er blieb dort zwei Tage. 41 Und noch viel mehr Leute kamen zum Glauben an ihn aufgrund seiner eigenen Worte. 42 Und zu der Frau sagten sie: Nicht mehr aufgrund deiner Rede glauben wir, denn wir haben selbst gehört und wissen: Er ist wirklich der Retter der Welt. (Johannes 4,39-42)
Jesus blieb zwar nur zwei Tage dort. Aber es war ein Grundstock gelegt. Wenn der Apostel Johannes diese Begebenheit viele Jahre später niedergeschrieben hat, setzt das voraus, dass es dort später eine Gemeinde gab. Wir müssen diese Samaritaner aber von denen unterscheiden, über die die Apostelgeschichte in 8,5-12 erzählt. Diese waren durch das Wirken von Philippus zum Glauben an Jesus gekommen. Doch da diese Menschen zuvor vom Zauberer Simon beeinflusst waren, können es nicht dieselben Leute wie in Johannes 4 gewesen sein. Es handelt sich auch um einen anderen Ort.
Wer waren die „anderen“, von denen Jesus sagte, dass sie sich abgemüht haben? Man könnte an die Propheten im alten Israel denken. Die Samaritaner waren in gewisser Weise die Nachkommen der Nordstämme. Auch die heutigen Samaritaner betrachten sich als das wahre Israel. Sie schlachten noch jedes Jahr ihre Paschalämmer am Berg Garizim.
Die Samaritaner haben aber die Bücher der Propheten nicht in ihrer Heiligen Schrift, die nur den Pentateuch oder die Thora, die fünf Bücher Mose umfasst. Daher kannten die Samaritaner die Worte der Propheten, die mehr als siebenhundert Jahre zuvor im Nordreich gewirkt haben, nicht. Der Glaube der Samaritaner an Jesus konnte daher nicht eine Folge des Wirkens dieser Propheten sein.
Außerdem sagte Jesus in Vers 36, dass sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam freuen. Die Propheten waren jedoch schon lange verstorben. Ich denke nicht, dass Jesus gemeint haben könnte, dass sie sich vom Himmel her mitfreuen.
Ein anderer Vorschlag ist, dass Jesus an sein eigenes Wirken und auch an das Wirken des Vaters gedacht hat. Es stimmt, dass alles an Gottes Hilfe und Wirken liegt. Gott bereitet die Menschen vor, die zum Glauben an Jesus kommen. So heißt etwa in Apostelgeschichte 16,14, dass der Herr das Herz von Lydia geöffnet hat. Aber das Wirken Jesu hat ja gerade erst begonnen. Er hatte mit der Frau gesprochen, sie ihre Sünden überführt. Danach blieb er noch zwei Tage dort, um mit den Menschen zu sprechen. So denke ich, dass Jesus mit den „anderen“ nicht sich selbst gemeint haben kann.
Ein weiterer Vorschlag ist, dass Jesus auf das Wirken von Johannes dem Täufer angespielt habe. Johannes war Jude und hat am Jordan die Juden zur Umkehr aufgerufen. Da würde man nicht erwarten, dass er auch zu den Samaritanern gegangen ist.
In Johannes 3,22-24 heißt es:
22 Darauf kam Jesus mit seinen Jüngern nach Judäa. Dort hielt er sich mit ihnen auf und taufte. 23 Aber auch Johannes taufte damals, und zwar in Änon bei Salim, weil dort viel Wasser war; und die Leute kamen und ließen sich taufen. 24 Johannes war nämlich noch nicht ins Gefängnis geworfen worden.
Während Jesus in Judäa getauft hat, hat Johannes in Änon bei Salim getauft. Dieser Ort wird unterschiedlich lokalisiert. Eusebius hat diesen Ort im 4. Jahrhundert südlich von Skythopolis (Beth Sche’an) im Jordantal angenommen. Viele biblische Karten zeigen Änon dort. Die Mosaikkarte von Medeba aus dem 6. Jahrhundert zeigt einen Ort Ainon weiter südlich auf der Ostseite des Jordan. Der Name „Ainon“ ist vermutlich vom hebräischen Wort Ajin („Quelle“) abgeleitet. Daher muss der Ort Änon auf dieser antiken Karte nicht unbedingt das biblische Änon sein. John A. T. Robinson1 hat Änon in Samaria angenommen.
In der Antike wurde es etwa 8 Meilen südlich von Skythopolis lokalisiert, nicht weit vom Jordan […] Laut M.-É. BOISMARD […] ist Salim das Dorf dieses Namens, das noch immer bewohnt ist, etwa drei Meilen östlich von Sichem in Samaria. […] Wie ALBRIGHT sagt, hat der Kommentar, daß „es dort viel Wasser gab“, offensichtlich den Zweck zu erklären, warum Johannes einen vom Jordan so weit entfernten Ort wie Aenon gewählt hat“.
Robinson schlägt Wadi Beidan als den Ort vor, wo Johannes getauft hat,
[…] Wadi Beidan, drei Meilen von Salim (vier Meilen entlang der Straße) und weniger als zwei vom Rande der Salim-Ebene entfernt. Es hat ein Dutzend Quellen, die, wie ich gesehen habe, vier Bäche mit reichlich Wasser speisen, die nicht austrocknen. […] Es gibt in dieser Gegend kein bekanntes Dorf namens Aenon, doch, wie BOISMARD sagt, könnte dies einfach bedeuten, daß Johannes „bei den Quellen nahe Salim“ getauft hat.
Wenn Änon bei Salim dort gewesen wäre, wäre das nicht sehr weit vom Jakobsbrunnen entfernt gewesen,
[…] da man Salim deutlich über das Tal hinweg vom Jakobsbrunnen aus sehen kann. […] Wenn wir fragen, warum der Täufer diese Stelle gewählt hatte, dann wird als Grund angegeben, daß es dort reichlich Wasser gab. Der Name Aenon (Quellen) zeigt, daß es sich nicht um Flußwasser handelte, und legt nahe, daß Johannes dorthin zu Beginn des Sommers gezogen war. Denn in Wadis mit bloßen Winterströmen (cheímarroi) wäre mit deren Austrocknen zu rechnen gewesen […]
Wenn diese Lokalisierung stimmt, hätte Johannes der Täufer kurze Zeit, bevor Jesus nach Samaria kam, dort gewirkt. Die Menschen dort wären durch ihn auf das Kommen Jesu vorbereitet gewesen. Johannes wäre derjenige gewesen, der „gesät“ hat. Jesus und seine Jünger sind zum „Ernten“ gekommen. Auch das Wort Jesu, dass sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam freuen, würde gut passen. Johannes und Jesus waren zwar nicht am selben Ort. Aber der Täufer hat gewiss erfahren, dass Jesus dort war und konnte sich mitfreuen. Johannes mit seinen Jüngern über diese Freude gesprochen:
Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihn hört, ist voller Freude über die Stimme des Bräutigams. Diese Freude hat sich nun bei mir vollendet. (Johannes 3,29)
Mir erscheint Robinsons Erklärung, dass mit den anderen, die sich abgemüht haben, das Wirken von Johannes dem Täufer in Samaria gemeint ist, schlüssig, auch wenn man es nicht mit absoluter Sicherheit behaupten kann. Es würde auch ein neuer Aspekt am Wirken Johannes des Täufers sichtbar, nämlich dass er, wie auch Jesus, die Samaritaner in sein Wirken einbezogen hat, die auch an den einen Gott Israels geglaubt haben, wenngleich sie nur einen Teil der alttestamentlichen Offenbarung angenommen haben.
- John A. T. Robinson, Johannes – Das Evangelium der Ursprünge, Wuppertal 1999, S. 142-143, Fußnote 40. ↩