45 Philippus traf Natanaël und sagte zu ihm: Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus, den Sohn Josefs, aus Nazaret. 46 Da sagte Natanaël zu ihm: Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen? Philippus sagte zu ihm: Komm und sieh! (Johannes 1,45-46)
Natanael stammte aus Kana (Johannes 21,2), das etwa 14 km nördlich von Nazaret lag.1 Dadurch war ihm der Heimatort Jesu sicher bekannt. Sollen wir seinen Worten „Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen?“ entnehmen, dass dieser Ort in einem derart schlechten Ruf stand, dass von dort nichts Gutes zu erwarten war?
Als Jesus Natanael auf sich zukommen sah, sagte Jesus zu ihm:
Sieh, ein echter Israelit, an dem kein Falsch ist. (Johannes 1,47)
Hätte Jesus ihn mit einem derartigen Lob begrüßt, wenn Natanael Nazaret gegenüber so voreingenommen war? Auch wenn es dort viele Leute gegeben haben sollte, deren Leben keineswegs vorbildlich war, so hat er sicher nicht alle Leute von dort gekannt. Die Familie Jesu war ihm offensichtlich nicht bekannt.
Natanaels rhetorische Frage war die Reaktion auf Philippus‘ Feststellung, den Messias gefunden zu haben. Mit dem, „über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben“, war der Messias gemeint. Ausdrücklich hat das in Vers 41 Andreas seinem Bruder Simon gesagt.
Die Frage Natanaels war wohl so zu verstehen, ob der Messias aus Nazaret kommen konnte und nicht, ob aus Nazaret überhaupt irgendetwas Gutes kommen könne.
Allen Juden, die auf den Messias warteten, musste die Verheißung des Propheten Micha bekannt gewesen sein:
Aber du, Betlehem-Efrata, bist zwar klein unter den Sippen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll. Seine Ursprünge liegen in ferner Vorzeit, in längst vergangenen Tagen. (Micha 5,1)
Der Messias sollte aus Betlehem kommen, nicht aus Nazaret. Auch wenn Micha vielleicht nur ausdrücken wollte, dass der Messias aus der Nachkommenschaft Davids kommen werde, der aus Betlehem stammte, war im 1. Jahrhundert die Messiaserwartung auf den Ort Betlehem gerichtet. Das zeigt auch diese Diskussion unter der Menge in Jerusalem:
41 Andere sagten: Dieser ist der Christus (= Messias). Wieder andere sagten: Kommt denn der Christus aus Galiläa? 42 Sagt nicht die Schrift: Der Christus kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Betlehem, wo David lebte? (Johannes 7,41-42)
Darum hat auch Natanael nicht damit gerechnet, dass der Messias aus einem Ort kommen sollte, der in den Schriften des Alten Testaments nicht einmal erwähnt war. Das Gute, das nicht aus Nazaret kommen konnte, war der Messias.
Diese Erklärung finden wir auch bei Chrysostomus:
Als nämlich Philippus sich gegen Nathanael geäussert hatte: „Wir haben Jesum von Nazareth [den Erlöser] gefunden,“ da hatte Nathanael zur Antwort gegeben: „Kann denn aus Nazareth etwas Gutes kommen“? Weßhalb hat nun Jesus den Nathanael gelobt? Weil dieser sich durch die Mittheilung des Philippus nicht gleich einnehmen ließ, vielmehr genau wußte und festhielt, daß nicht in Nazareth und nicht in Galiläa der Erlöser sollte geboren werden, sondern in Judäa—wie es denn auch geschehen ist. Während Philippus Das nicht wußte, war es dem schriftkundigen Nathanael wohl bekannt, daß der Messias nicht von Nazareth kommen sollte, und so stimmte denn seine Antwort mit jener alten Weissagung überein; darum sagte der Herr: „Siehe, ein wahrer Israelit, in dem kein Falsch ist!“ (Johannes Chrysostomus, In diem natalem 2)
Dass Jesus Natanael gerade deswegen gelobt haben sollte, weil er sich nicht sofort von Philippus überzeugen ließ, halte ich jedoch für eine konstruierte Erklärung. Jesus hat das Herz Natanaels gekannt.
[…] und brauchte von keinem ein Zeugnis über den Menschen; denn er wusste, was im Menschen war. (Johannes 2,25)
Darum hat er ihn gelobt.
Jesus ist der Messias. Er ist das Gute, das Geschenk Gottes an alle Menschen. Natanael hat das erkannt und ist ihm nachgefolgt.
- Rainer Riesner, Messias Jesus, Gießen 2019, S. 116 und 126 identifiziert es mit der Ruinenstätte Khirbet Qana am Rand der fruchtbaren Battof-Ebene. ↩