Wurde der 1. Johannesbrief von einem Augenzeugen geschrieben?

1 Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens – 2 das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist -, 3 was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. (1 Johannes 1,1-3)

Die neuere Theologie geht in der Regel davon aus, dass der 1. Johannesbrief nicht vom Apostel Johannes geschrieben wurde. Das bedeutet meist, dass man den Schreiber dieses Briefes nicht für einen Augenzeugen hält.

Auf bibelwissenschaft.de schreibt Klaus-Michael Bull im Artikel über die Johannesbriefe:

Im Neuen Testament sind 3 Briefe überliefert, die seit dem Ende des 2. Jh.s (Irenäus von Lyon, Canon Muratori) dem Zebedaiden Johannes zugeschrieben werden.
Der Text der Briefe bietet keinen Anhaltspunkt für diese traditionelle Zuschreibung. Dem 1Joh fehlt neben dem Präskript jedwede Verfasserangabe.

Udo Schnelle1 schreibt:

Im Gegensatz zum 2. 3 Joh gibt sich der Verfasser des 1 Joh nicht zu erkennen. Es ist umstritten, ob er mit dem Autor der beiden kleinen Johannesbriefe bzw. dem Verfasser des Evangeliums gleichzusetzen ist.

Für die beiden kleinen Briefe nimmt er den von Papias erwähnten Presbyter Johannes als Autor an. Hinsichtlich des Evangeliums schreibt er:2

Sprache, theologische Vorstellungswelt und die unterschiedliche Situation lassen vermuten, dass der 1 Joh und das Evangelium verschiedene Verfasser haben.

Schnelle geht natürlich davon aus, dass das Johannesevangelium nicht vom Apostel Johannes geschrieben wurde. Meine Gedanken dazu sind in diesem Artikel zu lesen.

Die Jerusalemer Bibel schrieb in ihrer Ausgabe von 1968:3

Außer dem Evangelium sind uns drei Briefe von der Überlieferung unter dem Namen des Johannes erhalten. Sie zeigen eine solche literarische und theologische Verwandtschaft mit dem Evangelium, daß es schwierig ist, sie nicht dem gleichen Verfasser, dem Apostel Johannes, gleichzusetzen.

In der Neuen Jerusalemer Bibel wurde der Satz wie folgt abgeändert:4

Außer dem Evangelium sind uns drei Briefe von der Überlieferung unter dem Namen des Johannes erhalten. Sie zeigen eine solche literarische und theologische Verwandtschaft mit dem Evangelium, daß man ihre(n) Verfasser dem gleichen Kreis um den Lieblingsjünger zurechnen muß wie das Evangelium.

Im Laufe von nicht einmal zwanzig Jahren wurde aus dem Apostel Johannes ein „Kreis um den Lieblingsjünger“. Dieser Kreis bestand dann nicht mehr aus Augenzeugen.

Eine interessante Position bezog Klaus Berger.5 In den einleitenden Worten zum Ersten Johannesbrief schrieb er:

Aufgrund der bedeutenden Ähnlichkeiten mit dem JohEv lag es nahe, für beide frühchristliche Schriften denselben Autor anzunehmen. Da man das JohEv dem Zebedaiden Johannes zuschrieb, mußte dieses auch für 1 Joh geschehen. Doch sind die Differenzen beträchtlich. Sie lassen es m. E. nicht geraten sein, denselben Autor anzunehmen.

Zu 1 Johannes 1,1 schrieb er aber in der Fußnote:

Der Verfasser spricht als Augenzeuge – ein wichtiger Hinweis für Frühdatierung!

Berger nahm eine Entstehung des Briefes um 55 n. Chr. an, aber wie es scheint, nicht den Apostel Johannes als Verfasser.

Die Worte der ersten drei Verse des Briefes sprechen mit einer unüberbietbaren Deutlichkeit davon, dass der Autor den Anspruch erhoben hat, das Wort des Lebens gesehen, gehört und mit seinen Händen angefasst zu haben.

Auch in 1 Johannes 4,14 schreibt der Verfasser des Briefes als ein Augenzeuge:

Wir haben geschaut und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Retter der Welt.

Die Worte des Schreibers erinnern an Stellen, die über die Erscheinungen des auferstandenen Herrn berichten:

Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst. Fasst mich doch an und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht. (Lukas 24,39)

Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! (Johannes 20,27)

40 Gott aber hat ihn am dritten Tag auferweckt und hat ihn erscheinen lassen, 41 zwar nicht dem ganzen Volk, wohl aber den von Gott vorherbestimmten Zeugen: uns, die wir mit ihm nach seiner Auferstehung von den Toten gegessen und getrunken haben. (Apostelgeschichte 10,40-41)

Der Schreiber des Briefes ist jemand, der das menschgewordene „Wort des Lebens“ gehört, gesehen und berührt hat. In den ersten Versen des Briefes ist zwar nicht ausdrücklich von der Auferstehung die Rede. Aber die wiederholte Erwähnung des Lebens lässt an die einzigartige Erfahrung denken, die die Jünger gemacht haben, als ihnen Jesus als der Auferstandene, als der Herr des Lebens erschienen ist. Das in Vers 2 zweimal vorkommende Wort „erschienen“ (ἐφανερώθη / ephanerōthē) bezieht sich zwar in erster Linie auf das Kommen des Herrn in diese Welt, hat aber auch den Beiklang der Erscheinung des Auferstandenen. In Markus 16,12.14 und in Johannes 21,14 steht dasselbe Wort für die Erscheinungen Jesu nach seiner Auferstehung.

Wenn der Verfasser im Plural schreibt, dann wohl deswegen, weil er sich mit den anderen Zeugen Jesu in Einheit weiß. Dass es nicht als Majestätsplural gedacht ist, sieht man daran, dass er in anderen Stellen des Briefes (z. B. 2,1.7-8) für sich den Singular verwendet. An manchen Stellen (z. B. 1,6-10) bedeutet das „Wir“, dass er sich mit seinen gläubigen Lesern verbunden weiß. Doch in den Eröffnungsversen geht es um sein Augenzeugnis in Verbindung mit den anderen Aposteln.

Dieses Zeugnis muss ernst genommen werden. Wer meint, dass diese Worte nicht von einem Augenzeugen stammen, bezichtigt den Schreiber des Briefes, in dem so viel von der Wahrheit die Rede ist, der Lüge. Da wäre es konsequent, seinen Brief aus dem Kanon zu entfernen. Doch das machen diese Theologen mangels Konsequenz nicht.

Der Autor muss seinen Empfängern bekannt gewesen sein. Deswegen konnte er auf die Nennung seines Namens verzichten. Die Autorität, mit der er schreibt, passt zu einem Apostel. Da dieser Brief von Anfang an als Brief des Apostels Johannes überliefert wurde und viele Ähnlichkeiten zum Johannesevangelium aufweist, spricht nichts dagegen, ihn als Werk des Apostels Johannes anzuerkennen.

Wir aber sind aus Gott. Wer Gott erkennt, hört auf uns; wer nicht aus Gott ist, hört nicht auf uns. Daran erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrtums. (1 Johannes 4,6)


  1. Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 9. Auflage, Halle 2017, S. 535. 
  2. Schnelle, S. 537. 
  3. Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Deutsche Ausgabe mit den Erklärungen der Jerusalemer Bibel, Freiburg im Breisgau 1968, S. 1494. 
  4. Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg im Breisgau 1985, S. 1510. 
  5. Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt am Main ²2015, S. 63ff. 

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