Vertilgt oder bewacht Gott das Starke?

15 Ich, ich selber werde meine Schafe weiden und ich, ich selber werde sie ruhen lassen – Spruch GOTTES, des Herrn. 16 Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen. Doch das Fette und Starke werde ich vertilgen. Ich werde sie weiden wie es recht ist. (Ezechiel 34,15-16)

In Ezechiel 34 tadelt Gott durch seinen Propheten die „Hirten Israels“. Sie haben nur sich selbst geweidet, die Herde ausgebeutet, sich aber nicht um ihre Schafe gekümmert. Gott wird deshalb die Hirten zur Rechenschaft ziehen. Er selbst wird sich als der wahre Hirte um sein Volk kümmern.

In Vers 16 gibt es im Hebräischen und im Griechischen unterschiedliche Varianten. Während im hebräischen Text davon die Rede ist, dass Gott das Fette und Starke vertilgen wird, heißt es in der Septuaginta1:

Ich werde das Verlorene suchen und das Verirrte zurückführen und das Verletzte verbinden und das Magere stärken und das Kräftige bewachen und sie mit Unterscheidung weiden.

Für „bewachen“ steht im Griechischen das Wort φυλάσσω / phylássō. Dem entspricht das hebräische Wort שָׁמַר / šāmar („bewachen, bewahren, hüten“). Im hebräischen Masoretentext steht שָׁמַד / šāmad („vernichten“). Die konkrete Form lautet אַשְׁמִ֖יד / ’ašmîd („ich werde vernichten“). Der griechische Text würde als Vorlage אֶשְׁמֹֽר / ’äšmōr voraussetzen.

Es ist zu bedenken, dass die Septuaginta bereits in vorchristlicher Zeit erstellt wurde. Der Masoretentext wurde von den Masoreten (jüdischen Schriftgelehrten) erst Jahrhunderte nach Christus fertiggestellt. Diese haben aber auch nicht einfach drauflos fabuliert, sondern waren um die Bewahrung und Fixierung des alten ihnen überlieferten Textes bewahrt. Wesentlich gehörte dazu die Hinzufügung von Vokalzeichen zum überlieferten Konsonantentext.

Bei den Konsonanten unterscheiden sich die beiden Varianten vor allem im letzten Buchstaben, der entweder ein Resch oder ein Dalet ist. Der Masoretentext hat noch ein zusätzliches Jod (י) zur Kennzeichnung des Vokals i. Im Text, der den Septuaginta-Übersetzern vorlag, war dieses Jod offensichtlich nicht enthalten. Sobald sich im Hebräischen die Lesart ’ašmîd durchgesetzt hatte, konnte dieses Jod auch schon vor den Masoreten zur Klarstellung, dass hier ein i zu lesen ist, in den Text eingefügt worden sein.

Die Konsonanten Dalet (ד) und Resch (ר) sind nicht nur in der heute üblichen „Quadratschrift“ (seit ca. dem 1. Jahrhundert n. Chr.) ähnlich, sondern auch in der althebräischen Schrift (Dalet:Dalet; Resch:Resh) und konnten daher, wenn sie etwas schlampig geschrieben wurden, leicht verwechselt werden. Die Verwechslung zwischen diesen beiden Konsonanten ist auch aus anderen Fällen bekannt. So werden in den Handschriften mitunter die Namen der Völker Edom und Aram durcheinandergebracht.

Die Septuaginta kann daher mit der Version „bewachen, bewahren“ durchaus die ältere oder ursprüngliche Version des Textes bieten. Gott kümmert sich um die Verlorenen und Vertriebenen, verbindet die Verletzten und kräftigt die Kranken oder Mageren. Aber er bewahrt auch die Starken. Warum sollte er die Starken, so sie wirklich stark sind, vernichten?

Betrachtet man aber die Verse 17-22, passt auch die Lesart des Masoretentextes irgendwie:

17 Ihr aber, meine Herde – so spricht GOTT, der Herr -, siehe, ich sorge für Recht zwischen Schaf und Schaf. Ihr Widder und ihr Böcke, 18 ist es euch zu wenig, dass ihr auf der besten Weide weidet und euer übriges Weideland mit euren Füßen zertrampelt? Dass ihr das klare Wasser trinkt und den Rest des Wassers mit euren Füßen verschmutzt? 19 Meine Schafe müssen abweiden, was eure Füße zertrampelt haben, und trinken, was eure Füße verschmutzt haben. 20 Darum – so spricht GOTT, der Herr, zu ihnen: Siehe, ich selbst bin es, ich sorge für Recht zwischen fettem Schaf und magerem Schaf. 21 Weil ihr all die Schwachen mit Seite und Schulter zur Seite drängt und mit euren Hörnern wegstoßt, bis ihr sie nach draußen zerstreut habt, 22 werde ich meinen Schafen zu Hilfe kommen. Sie sollen nicht länger zum Raub werden und ich werde für Recht sorgen zwischen Schaf und Schaf. (Ezechiel 34,17-22)

Hier geht es nicht mehr um die Hirten, die sich selbst weiden, sondern um die rücksichtslosen starken Schafe2, die Widder und Böcke. Gott wird zwischen ihnen für Recht sorgen. Er zieht nicht nur die Hirten zur Rechenschaft, sondern auch die fetten Schafe, die auf die mageren Schafe keine Rücksicht nehmen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang nicht vom „Vernichten“ der starken Schafe die Rede.

Ich halte es für wahrscheinlicher, dass die Septuaginta die ursprüngliche Version von Vers 16 bewahrt hat, dass im hebräischen Text unter dem Eindruck der Folgeverse und einem Lese- oder Schreibfehler aber die Version „vernichten“ entstanden ist.

Es geht Gott um das Bewahren und Erhalten. Wer sich aber im Vertrauen auf seine „Stärke“ gegen Gott und die anderen „Schafe“ wendet, muss mit Gottes Gericht rechnen. Deshalb hat auch die Version des Masoretentextes eine gewisse Berechtigung.

22 So spricht der HERR: Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit, der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums. 23 Nein, wer sich rühmen will, rühme sich dessen, dass er Einsicht hat und mich erkennt, nämlich dass er weiß: Ich, der HERR, bin es, der auf der Erde Gnade, Recht und Gerechtigkeit wirkt. Denn an solchen Menschen habe ich Gefallen – Spruch des HERRN. (Jeremia 9,22-23)


  1. Text nach: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2. Auflage 2010, S. 1400. 
  2. Das Wort צאֹן / zōn bedeutet „Kleinvieh“, umfasst also Schafe und Ziegen. 

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