Genesis 33 erzählt über die Begegnung zwischen Jakob und Esau östlich des Jordans. Jakob war auf dem Rückweg aus Haran in Mesopotamien, wohin er aus Angst vor seinem Bruder Esau, den er um den Erstgeburtssegen betrogen hatte, geflohen war. Nach vielen Jahren kehrte er mit einer großen Familie und einer zahlreichen Herde zurück.
Esau hatte sich mit vierhundert Mann ihm entgegen auf den Weg gemacht. Jakob war bereit, sich vor ihm zu demütigen. Er hatte ihm eine Herde als Geschenk vor sich her entgegengeschickt (Genesis 32,14-22).
Dann kam es zur Begegnung der beiden Brüder:
1 Jakob erhob seine Augen und sah: Und siehe, Esau kam und mit ihm vierhundert Mann. Da verteilte er die Kinder auf Lea und Rahel und auf die beiden Mägde. 2 Die Mägde und deren Kinder stellte er vorn hin, dahinter Lea und ihre Kinder und zuletzt Rahel und Josef. 3 Er selbst ging vor ihnen her und warf sich siebenmal zur Erde nieder, bis er nahe an seinen Bruder herangekommen war. 4 Esau lief ihm entgegen, umarmte ihn und fiel ihm um den Hals; er küsste ihn und sie weinten. (Genesis 33,1-4)
Als Esau das Geschenk Jakobs zuerst nicht annehmen wollte, sagte Jakob zu ihm:
Nicht doch, entgegnete Jakob, wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, dann nimm mein Geschenk aus meiner Hand an! Denn dafür habe ich dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, und du bist mir wohlwollend begegnet. (Genesis 33,10)
Die wohlwollende Gesinnung Esaus war für Jakob so etwas wie eine Gottesbegegnung. Die durch seine Lüge und seinen Betrug entstandene Feindschaft seines Bruders war überwunden. Die beiden waren versöhnt.
Esau nahm das Geschenk an und schlug Jakob vor, gemeinsam weiter zu ziehen.
12 Darauf machte Esau den Vorschlag: Brechen wir auf und ziehen wir weiter! Ich will an deiner Seite ziehen. 13 Jakob entgegnete ihm: Mein Herr weiß, dass die Kinder noch schwach sind; auch habe ich für säugende Schafe und Rinder zu sorgen. Treibt man sie auch nur einen einzigen Tag rasch an, so stirbt das ganze Vieh. 14 Mein Herr ziehe doch seinem Knecht voraus. Ich aber will mich dem gemächlichen Gang der Viehherden vor mir und dem Schritt der Kinder anpassen, bis ich zu meinem Herrn nach Seïr komme. 15 Darauf sagte Esau: Ich will dir einige von meinen Leuten zuweisen. Wozu?, erwiderte Jakob, ich finde ja das Wohlwollen meines Herrn. 16 Esau kehrte an jenem Tag auf seinem Weg nach Seïr zurück. 17 Jakob brach nach Sukkot auf. Er baute sich ein Haus und für sein Vieh errichtete er Hütten. Darum gab er dem Ort den Namen Sukkot. (Genesis 33,12-17)
Jakob hatte offensichtlich nicht die Absicht, mit Esau mitzuziehen. Er sagte ihm das aber nicht direkt, sondern schob andere Gründe vor. Er sagte nicht klar, dass er nicht zu Esau nach Seïr ziehen wollte, sondern sprach nur davon, dass er langsam nachkommen werde.
Wie sollen wir das beurteilen? War das eine echte Versöhnung, wenn Jakob unmittelbar danach schon wieder gelogen hat?
Die Jerusalemer Bibel schreibt dazu:
Jakob, der Esau mißtraut, läßt ihn vorausziehen, und statt ihm zu folgen, kehrt er ihm den Rücken.
Wäre dem so gewesen, dann wäre die „Versöhnung“ von Jakobs Seite her nur vorgetäuscht gewesen. Jakob hätte keinen Willen zur Versöhnung gehabt. Er hätte aber in dieser gefährlichen Lage keine andere Möglichkeit gesehen. Es wäre keine Versöhnung gewesen, sondern nur ein frommes Theater.
Muss man das wirklich so negativ sehen?
Könnte man nicht auch mit der Möglichkeit rechnen, dass es den damaligen orientalischen Gepflogenheiten entsprach, Dinge nicht immer so direkt anzusprechen?
Eigentlich sollte Esau gewusst haben, dass das Land, das Gott Abraham und seiner Nachkommenschaft verheißen hat, das Land Kanaan war, nicht das Land Seïr, östlich des Toten Meeres, in dem sich Esau aufhielt. Durch den Segen Isaaks galt diese Verheißung Jakob. Darum sollte Jakob nach Kanaan ziehen, nicht nach Seïr.
Vielleicht war auch Esaus Einladung an Jakob, mit ihm zu ziehen, nur eine Höflichkeitsfloskel. Er wollte damit ausdrücken, dass die Feindschaft zwischen den beiden tatsächlich der Vergangenheit angehörte. Jakob wollte daraufhin seinen Bruder nicht dadurch beleidigen, dass er einfach ablehnte. So hat er Gründe vorgeschoben, warum er nicht mit ihm gemeinsam dorthin ziehen konnte. Aber beiden war klar, dass sie in Zukunft getrennte Wege gehen würden. Dadurch, dass Esau sich außerhalb Kanaans niedergelassen hatte, hat er auch gezeigt, dass er akzeptiert hat, dass die Verheißung, Erbe dieses Landes zu sein, nicht auf ihm, sondern auf Jakob lag.
Eine entfernte Parallele finden wir vielleicht in Genesis 23 in der Situation, als Abraham die Grabhöhle für seine verstorbene Frau Sara gekauft hat. Abraham wollte die Höhle zum vollen Geldwert einkaufen.
7 Da stand Abraham auf, verneigte sich tief vor dem Volk des Landes, vor den Hetitern, 8 und redete mit ihnen und sagte: Wenn es in eurem Sinne ist, dass ich meine Tote hinausbringe und begrabe, dann hört mich an und setzt euch für mich ein bei Efron, dem Sohn Zohars! 9 Er soll mir die Höhle von Machpela geben, die ihm gehört, am Rand seines Feldes. Zum vollen Geldwert soll er sie mir geben als Grabstätte und Eigentum mitten unter euch. 10 Efron saß mitten unter den Hetitern. Der Hetiter Efron antwortete Abraham, sodass es die Hetiter, alle, die zum Tor seiner Stadt Zutritt hatten, hören konnten: 11 Nein, mein Herr, höre mich an: Ich gebe dir das Feld und die Höhle darauf gebe ich dir; in Gegenwart der Söhne meines Volkes gebe ich sie dir. Begrab deine Tote! 12 Da verneigte sich Abraham tief vor dem Volk des Landes 13 und sagte zu Efron, sodass es das Volk des Landes hören konnte: Ach, möchtest du mich nur anhören: Ich zahle das Geld für das Feld. Nimm es von mir an, damit ich dort meine Tote begrabe! 14 Efron antwortete Abraham: 15 Mein Herr, höre mich an! Land im Wert von vierhundert Silberstücken, was bedeutet das schon unter uns? Begrab nur deine Tote! 16 Abraham hörte auf Efron und wog dem Efron den Geldbetrag ab, den er in Gegenwart der Hetiter genannt hatte, vierhundert Silberstücke zum üblichen Handelswert. (Genesis 23,7-16)
Zuerst sagte Efron, dass er ihm das Grundstück samt Höhle einfach geben würde. Man könnte das so verstehen, dass er es ihm schenken würde. Doch Abraham war klar, dass das nicht gemeint war. Erst danach hat Efron den Kaufpreis genannt, den Abraham auch akzeptiert und bezahlt hat.
Vielleicht gehörte es zur damaligen Kultur, etwas anzubieten, wovon beiden Seiten klar war, dass die Sache nicht so gemeint war. So könnte ich mir vorstellen, dass es auch zwischen Esau und Jakob so war, dass für beide klar war, dass sie getrennte Wege gehen würden. Doch Esau fühlte sich verpflichtet, Jakob zu sich einzuladen und Jakob wollte nicht mit einem direkten Nein antworten.
Vielleicht gibt es einen besseren Erklärungsversuch. Doch scheint es mir nicht zu der Stelle zu passen, wenn Jakob, der immer wieder den Segen Gottes erfuhr, seinen Bruder so einfach angelogen hätte.
Die nächste Situation, in der Jakob und Esau gemeinsam erwähnt werden, war beim Tod ihres Vaters Isaak.
28 Isaak wurde hundertachtzig Jahre alt, 29 dann verschied er. Er starb und wurde mit seinen Vorfahren vereint, betagt und satt an Jahren. Seine Söhne Esau und Jakob begruben ihn. (Genesis 35,28-29)
Es ist nur eine kurze Erwähnung. Doch es scheint, dass sie in Einheit miteinander waren.
Auf keinen Fall darf dieses Verhalten Jakobs als Vorbild für unsere Zeit in einer völlig anderen Kultur herangezogen werden. Mein Anliegen mit diesem Text ist es, das Verhalten Jakobs in seiner konkreten Situation zu verstehen. Diese Begebenheit kann aber keine Rechtfertigung für irgendeine Art der Lüge darstellen.
1 HERR, wer darf Gast sein in deinem Zelt, wer darf weilen auf deinem heiligen Berg? 2 Der makellos lebt und das Rechte tut, der von Herzen die Wahrheit sagt. (Psalm 15,1-2)