Zum Problem der Volkszählung zur Zeit der Geburt Jesu

1 Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen. 2 Diese Aufzeichnung war die erste; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. 3 Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. 4 So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. (Lukas 2,1-4)

Diese Verse gehören zu einem der bekanntesten Texte des Neuen Testaments, da mit ihnen das sogenannte Weihnachtsevangelium beginnt. Zugleich enthalten diese Verse auch ein Problem. Als Jesus geboren wurde, war Publius Sulpicius Quirinius nicht Statthalter von Syrien.

Jesus wurde sicher nicht zu „Christi Geburt“ geboren. Die heute gebräuchliche Zählung der Jahre vor und nach „Christi Geburt“ geht auf Dionysius Exiguus (ca. 470-540) zurück, dessen Berechnung nicht korrekt war. Jesus ist nach den Angaben des Matthäus-Evangeliums (vergleiche Matthäus 2,19-20) einige Zeit vor dem im Jahre 4 v. Chr. erfolgten Tod des Herodes geboren, vermutlich ca. im Jahre 7 v. Chr. Damals war Qurinius nicht Statthalter von Syrien.

In dieser Position war er allerdings, als es im Jahre 6 n. Chr. einen Zensus in Judäa gab. Damals wurde der Herodessohn Archelaus seiner Position als Ethnarch Judäas enthoben und Judäa zu einer römischen Provinz gemacht. Damals war es Quirinius, der die Erfassung der steuerpflichtigen Bevölkerung in die Wege leitete. Über die damit verbundenen Unruhen schreibt Flavius Josephus (Jüdische Altertümer XVIII, 1f). Auch Lukas erwähnt sie in Apostelgeschichte 5,37 im Munde von Gamaliel:

Nach ihm trat in den Tagen der Volkszählung Judas, der Galiläer, auf; er brachte viel Volk hinter sich und verleitete es zum Aufruhr. Auch er kam um und alle seine Anhänger wurden zerstreut.

Hat Lukas nun die Volkszählung von 6 n. Chr. zu früh, also bereits zur Zeit der Geburt Jesu angesetzt? Das wäre kein grundsätzliches Problem, da die Inspiration der Bibel sich auf ihre geistlichen Inhalte bezieht. Die Autoren der Bibel waren nicht vor historischen oder geografischen Irrtümern gefeit.

Auf keinen Fall war die Zählung im Jahre 6 n. Chr. eine Zählung des „ganzen Erdkreises“ (griechisch: οἰκουμένη / oikuménē), womit das Römische Reich gemeint war. Die Zählung 6 n. Chr. war, da sie im Zusammenhang mit der Übernahme Judäas in die römische Verwaltung stand und somit auf Judäa beschränkt war, nur lokal.

Tertullian, der das Lukasevangelium kannte, hat um 200 von einer Volkszählung durch Sentius Saturninus geschrieben.

Es gibt jedoch historische Beweise dafür, dass genau zu dieser Zeit in Judäa eine Volkszählung durch Sentius Saturninus durchgeführt wurde, die ihren Nachforschungen über die Familie und die Abstammung von Christus hätte genügen können. (aus Adversus Marcionem, IV, 19)

Sentius Saturninus war von 9 – 7 v. Chr. Legat, d. h. Statthalter, in Syrien, also gerade zu der Zeit, als Jesus geboren wurde.

Kaiser Augustus erwähnte in seinen Res Gestae (Rechenschaftsbericht) , die vor allem im Monumentum Ancyranum erhalten sind, dass es in seiner Regierungszeit mehrere Volkszählungen gab.

[…] Dann führte ich mit meiner konsularischen Amtsgewalt zum zweiten Male, nun allein, ein Lustrum durch, als Gaius Censorinus und Gaius Asinius Konsuln waren. In diesem Lustrum wurden 4.233.000 römische Bürger gezählt. […] (Res Gestae Divi Augusti 8)

Gaius Censorinus und Gaius Asinius waren im Jahre 8 v. Chr. Konsuln. Es gab also damals eine Zählung, die alle Bürger des Reichs erfassen wollte, also die gesamte „Ökumene“ betraf. In Randbereichen des Reiches konnte die Zählung vielleicht auch mit etwas Verzögerung im Jahre 7 durchgeführt worden sein.

Augustus berichtete nur über die Zählung der römischen Bürger, die nur eine Minderheit der Bevölkerung des Reiches darstellten. Aber es ist durchaus möglich, da es ja vor allem um das Steueraufkommen ging, dass alle Menschen gezählt wurden, von denen Steuergeld zu erwarten war. Ein weiteres Problem ist, dass Judäa damals noch ein nominell eigenständiges Königreich unter Herodes war und dass man daher nicht so einfach davon ausgehen konnte, dass auch dort gezählt wurde.

Rainer Riesner1, der in diesem Zusammenhang die Res Gestae allerdings nicht erwähnt, schreibt:

Nun waren aber die früher sehr guten Beziehungen des Herodes zu Augustus seit 9 v. Chr. durch den Krieg gegen die mit Rom verbündeten Nabatäer stark belastet.

Die Vollmacht des Herodes habe sich nur mehr innerhalb der vom kaiserlichen Gericht gezogenen Grenzen bewegt.

Deshalb erscheint es nach wie vor möglich, dass Quirinius als Sonderbeauftragter des Augustus für den Osten des Reiches den judäischen Zensus im Klientelstaat von Herodes überwachte. Dann müsste allerdings der griechische Ausdruck hēgemoneuein nicht spezifisch im Sinn einer Provinz-Statthalterschaft gebraucht sein, sondern allgemein eine Aufsichtstätigkeit bedeuten […]

Riesner hält es zumindest für möglich, dass Qurinius als ein Sonderbeauftragter des Kaisers die Volkszählung durchgeführt habe.

Ein anderer Lösungsvorschlag wird von Armand Puig i Tárrech vertreten.2 Riesner fasst zusammen:

Danach würde es sich um einen von Herodes dem Großen um 8/7 v. Chr. veranstalteten Zensus handeln, mit dem sich ein von Josephus für 7 v. Chr. erwähnter Treueeid aller herodianischen Untertanen auf Augustus verbinden ließe (Ant XVII 42). In der Tat hätte es nahegelegen, auch die Steuerlisten auf einen neuen Stand zu bringen, wenn sich alle Bewohner ohnehin bei den Behörden melden mussten. Lukas 2,2 wäre dann wiederzugeben als:
„Diese Aufschreibung geschah, bevor (prōtē) Kyrenios über Syrien herrschte (hēgemoneuontos tēs Syrias).“
Diese Übersetzung lässt sich philologisch durchaus begründen, denn der Ausdruck prōtē muss nicht als Adjektiv „die erste (von zwei Aufschreibungen)“, sondern kann auch als Adverb mit der Bedeutung „bevor“ wiedergegeben werden.

Einen ähnlichen, aber etwas anderen Vorschlag machte auch F. F. Bruce unter Berufung auf N. Turner:3

Die Stelle Lk 2,2, die den Quirinius im Zusammenhang mit früheren Zensusmaßnahmen erwähnt, übersetzt man am besten: „Diese Registrierung fand vor derjenigen statt, die vorgenommen wurde, als Quirinius Statthalter von Syrien war“.

Diese Erklärungsmöglichkeiten zeigen, dass Lukas nicht einfach eine lokale Zählung aus dem Jahre 6 historisch falsch eingeordnet und dann auch noch auf das gesamte Römische Reich ausgeweitet hat. Entweder hatte Quirinius um die Zeit der Geburt Jesu einen Sonderauftrag zur Durchführung der Volkszählung oder man übersetzt Lukas 2,2 etwas anders, sodass die Person des Quirinius nicht mit der Volkszählung zur Zeit der Geburt Jesu verbunden ist.

Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass Lukas einen Fehler gemacht hat. Vielmehr trifft zu, was Lukas in seinem Prolog schreibt:

3 Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. 4 So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest. (Lukas 1,3-4)


  1. Beide folgenden Zitate aus: Rainer Riesner, Messias Jesus, Gießen 2019, S. 53. 
  2. Armand Puig i Tárrech, Jesus. Eine Biographie, 2011, S. 162-174. 
  3. F. F. Bruce, Zeitgeschichte des Neuen Testaments, 1986, S. 36, Fußnote 1. 

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