Ein Samaritaner beim Goldenen Kalb?

In der Erzählung über das Goldene Kalb erwähnt Sure 20 eine sonst nicht erwähnte Person, die „der Sāmirī“ genannt wird.

83 „Und was hat dich veranlaßt, von deinem Volk fortzueilen, o Mūsā?“ 84 Er sagte: „Sie folgen mir doch auf der Spur. Und ich bin zu Dir geeilt, mein Herr, damit Du (mit mir) zufrieden seiest.“ 85 Er sagte: „Wir haben dein Volk der Versuchung ausgesetzt, nachdem du (weggegangen) warst, und der Sāmirī hat sie in die Irre geführt.“ 86 Da kam Mūsā zu seinem Volk zornig und bekümmert zurück. Er sagte: „O mein Volk, hat euch euer Herr nicht ein schönes Versprechen gegeben? Dauerte es euch mit dem Bund zu lange, oder wolltet ihr, daß Zorn von eurem Herrn über euch hereinbricht, so daß ihr die Vereinbarung mit mir gebrochen habt?“ 87 Sie sagten: „Wir haben die Vereinbarung mit dir nicht aus unserem (eigenen) Willen gebrochen, sondern wir trugen (ganze) Lasten von den Schmucksachen des Volkes, und dann haben wir sie geworfen, und ebenso hat der Sāmirī (welche) hineingelegt. 88 So brachte er ihnen ein Kalb hervor als Leib, das blökte. Sie sagten: ‚Das ist euer Gott und der Gott Mūsās, aber er hat (es) vergessen‘.“ 89 Sehen sie denn nicht, daß er ihnen kein Wort erwidert und ihnen weder Schaden noch Nutzen zu bringen vermag? […]
95 Er sagte: „Doch was ist mit dir, o Sāmirī?“ 96 Er sagte: „Ich gewahrte, was sie nicht gewahrten, und so faßte ich eine Handvoll (Erde) von der Spur des Gesandten und warf sie dann hin (ins Feuer). So habe ich es mir selbst eingeredet.“ 97 Er sagte: „Geh weg! Es ist dir im Leben beschieden, zu sagen: ‚Berührt mich nicht!‘ Und du hast eine Verabredung, die dir nicht gebrochen wird. Und schau auf deinen Gott, dessen Andacht du dich dauernd hingegeben hast. Wir werden ihn ganz gewiß verbrennen, und hierauf werden wir ihn ganz gewiß in das große Gewässer streuen. (Sure 20,83-89.95-97)

Nach Vers 85 war es der Sāmirī, der die Hauptverantwortung für diesen Götzendienst trug. Der biblische Bericht über diese Begebenheit weiß aber nichts von einem Sāmirī.

1 Als das Volk sah, dass Mose noch immer nicht vom Berg herabkam, versammelte es sich um Aaron und sagte zu ihm: Komm, mach uns Götter, die vor uns herziehen. Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat – wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist. 2 Aaron antwortete: Nehmt euren Frauen, Söhnen und Töchtern die goldenen Ringe ab, die sie an den Ohren tragen, und bringt sie her! 3 Da nahm das ganze Volk die goldenen Ohrringe ab und brachte sie zu Aaron. 4 Er nahm sie aus ihrer Hand. Und er bearbeitete sie mit einem Werkzeug und machte daraus ein gegossenes Kalb. Da sagten sie: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben. (Exodus 32,1-4)

Hier war es Aaron, der dem Druck des Volkes nach einem sichtbaren Symbol für Gott nachgegeben hat. Wenn der Koran recht hätte und der Sāmirī das Volk Israel verführt hätte, würde in der biblischen Darstellung ein wesentlicher Aspekt fehlen. Warum hätte Gott diesen wichtigen Punkt erst ca. 2000 Jahre nach dem Ereignis kundgetan?

Es spricht viel dafür, dass mit dem Sāmirī „der Samaritaner“ gemeint war. So lautet Vers 85 in der englischen Übersetzung von Arberry:

Said He, ‚We have tempted thy people since thou didst leave them. The Samaritan has misled them into error.‘

Die Übersetzung mit „Samaritaner“ ist also zumindest möglich.

Das Problem ist, dass es zur Zeit Moses keine Samaritaner gab. Die Samaritaner haben ihren Namen von der Stadt Samaria, welche von Omri, dem König von Israel, um das Jahr 880 v. Chr. gegründet wurde (1 Könige 16,24). Der Name „Samaritaner“ kam jedoch erst nach der Zerstörung des Nordreichs Israel durch die Assyrer 722 v. Chr. auf. Zur Zeit Moses konnte es auf keinen Fall Samaritaner gegeben haben.

Der erste König des Nordreichs, Jerobeam I., hat in seinem Reich zwei „Goldene Kälber“ in den Reichsheiligtümern von Bet-El und Dan errichten lassen, um die Bewohner seines Reichs von Wallfahrten nach Jerusalem abzuhalten.

26 Jerobeam dachte in seinem Herzen: Das Königtum könnte wieder an das Haus David fallen. 27 Wenn dieses Volk hinaufgeht, um im Haus des HERRN in Jerusalem Opfer darzubringen, wird sich sein Herz wieder seinem Herrn, dem König Rehabeam von Juda, zuwenden. Mich werden sie töten und zu Rehabeam, dem König von Juda, zurückkehren. 28 So ging er mit sich zu Rate, ließ zwei goldene Kälber anfertigen und sagte: Ihr seid schon zu viel nach Jerusalem hinaufgezogen. Hier sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben. 29 Er stellte das eine Kalb in Bet-El auf, das andere brachte er nach Dan. (1 Könige 12,26-29)

Diese „Sünde Jerobeams“ wird in den Königsbüchern immer wieder kritisiert. Der Prophet Hosea sprach sogar vom „Kalb von Samaria“.

5 Samaria, dein Kalb ist verworfen. Mein Zorn ist entbrannt gegen sie; wie lange noch sind sie unfähig zur Reinheit? 6 Denn von Israel kommt es: Ein Handwerker hat es gemacht – ein Gott ist es nicht. Ja, zu Splittern soll es werden, das Kalb von Samaria. (Hosea 8,5-6)

Es gab durchaus eine geistliche Verbindung zwischen dem Goldenen Kalb in der Wüste und dem „Kalb Samarias“. Ein koranischer Autor, dem der geschichtliche Überblick über das Alte Testament fehlte, konnte daher beide Ereignisse, zwischen denen Jahrhunderte lagen, miteinander verbinden und einen Samaritaner für das Goldene Kalb in der Wüste verantwortlich machen.

Heinrich Speyer1 äußerte Bedenken an der Gleichsetzung des Sāmirī mit einem Samaritaner. Er wies darauf hin, dass die Samaritaner in nachbiblischer Zeit im Allgemeinen Kūtīm genannt werden und dass die Bildung des Namens Sāmirī aus dem Hebräischen šômrî bzw. šômrônî „nicht ohne weiteres einleuchtend“ sei. (Später sieht er aber doch eine Verbindung mit dem syrischen Šāmrājā.) Er versucht den Namen Sāmirī aus Numeri 25,14 zu entnehmen:

Der Israelit, der zusammen mit der Midianiterin erschlagen worden war, hieß Simri; er war ein Sohn Salus und Anführer einer simeonitischen Großfamilie.

Simri hatte mit einer Midianiterin götzendienerische Unzucht begangen.

Speyer dachte an eine Verbindung beider Aspekte.

Mohammed hat also hier Zimrī und Samaritaner zusammengeworfen und das, was ihm von ihnen berichtet wurde, miteinander verquickt.

Betrachten wir die Strafe, die dem Sāmirī in Sure 20,97a angekündigt wird, passt das aber wieder zu den Samaritanern:

Er sagte: „Geh weg! Es ist dir im Leben beschieden, zu sagen: ‚Berührt mich nicht!‘ […]

Das „Berührt mich nicht!“ würde gut zu der strengen Abgrenzung passen, wie sie die Samaritaner von den Juden erfahren haben, die aber auch die Samaritaner den Juden gegenüber hatten.

Die Samariterin sagte zu ihm: Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um etwas zu trinken bitten? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. (Johannes 4,9)

52 Und er schickte Boten vor sich her. Diese gingen und kamen in ein Dorf der Samariter und wollten eine Unterkunft für ihn besorgen. 53 Aber man nahm ihn nicht auf, weil er auf dem Weg nach Jerusalem war. (Lukas 9,52-53)

Auf Simri aus Numeri 25,14 würde diese Strafe nicht passen, da er ja sofort getötet wurde.

Es spricht also alles dafür, dass dem Autor des Korans, der gewiss nicht der allmächtige ewige Gott war, ein Anachronismus unterlaufen ist. Er hat das „Kalb Samarias“ mit dem Goldenen Kalb in der Wüste verbunden. So war laut Koran der Hauptverantwortliche für das Goldene Kalb ein Samaritaner.

Doch auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass mit dem Sāmirī ein sonst unbekannter Zeitgenosse Moses gemeint sein sollte, stellt sich die Frage, warum die biblischen Schreiber über diesen Mann nichts geschrieben haben. Wäre dieser Mann tatsächlich der Hauptschuldige an der Sünde der Israeliten gewesen, hätte es keinen Grund gegeben, von ihm zu schweigen. Ganz im Gegenteil wäre dadurch Aaron etwas entlastet worden.

Interessanterweise weiß auch ein anderer koranischer Text über das Goldene Kalb in Sure 7,148-153 nichts über den Sāmirī. Wurden die Texte in Sure 7 und Sure 20 möglicherweise von unterschiedlichen Autoren verfasst?

Die islamische Behauptung, dass der Koran das vollkommene und fehlerlose Wort des ewigen Gottes sei, kann nicht aufrechterhalten werden.


  1. Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, 3. Nachdruckauflage, Hildesheim 1988, S. 329-332. 

Kommentare sind geschlossen.

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑