„Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet.“

Vor allem im Gefolge von im Namen des Islams verübten Terroranschlägen wird gerne aus Sure 5,32 zitiert. So heißt es z. B. in einer Veröffentlichung des Zentrums für Islamische Theologie Münster nach dem Anschlag auf ein französisches Satiremagazin:

Das Zentrum für Islamische Theologie Münster (ZIT) verurteilt das Attentat auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ auf das Schärfste und distanziert sich in aller Form von Gewalt im Namen jeglicher Religion, insbesondere des Islams. Das ZIT schließt sich der Trauer um die Opfer an und möchte gerade angesichts solcher furchtbaren Taten seinen Weg zur Etablierung eines reflektierten und authentischen Islamverständnisses weiter gehen. „Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben schenkt, so ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben geschenkt“ (Koran 5:32)

Ähnlich heißt es in der Gemeinsamen Erklärung zur Geschwisterlichkeit aller Menschen, die am 4. Februar 2019 von Papst Franziskus und dem Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb in Abu Dhabi unterzeichnet wurde:

Im Namen der unschuldigen menschlichen Seele, die zu töten Gott verboten hat, wenn er sagt, dass jeder, der einen Menschen ermordet, so ist, als hätte er die ganze Menschheit getötet, und dass jeder, der einen Menschen rettet, so ist, als hätte er die ganze Menschheit gerettet.

In diesem Dokument wird zwar nicht Sure 5,32 als Quelle angeführt. Es ist aber offensichtlich, dass dieser Koranvers gemeint ist.

Wird durch dieses in dieser Form zitierte Wort aus dem Koran tatsächlich ein reflektiertes und authentisches Islamverständnis etabliert?

Lesen wir das Wort im Zusammenhang und ungekürzt:

31 Da schickte Allah einen Raben, der in der Erde scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die böse Tat an seinem Bruder verbergen könne. Er sagte: „O wehe mir! War ich unfähig, zu sein wie dieser Rabe und die böse Tat an meinem Bruder zu verbergen?“ So wurde er von denjenigen, die bereuen. 32 Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Isrāʾīls vorgeschrieben: Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (daß es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält. Unsere Gesandten sind bereits mit klaren Beweisen zu ihnen gekommen. Danach aber sind viele von ihnen wahrlich maßlos auf der Erde geblieben. 33 Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften, ist indessen (der), daß sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder daß ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder daß sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits gibt es für sie gewaltige Strafe, 34 – außer denjenigen, die bereuen, bevor ihr Macht über sie habt. So wisset, daß Allah Allvergebend und Barmherzig ist. (Sure 5,31-34)

Ich habe das Zitat mit Vers 31 begonnen, weil dieser Vers auf den Zusammenhang mit der koranischen Version der Erzählung über Kain und Abel hinweist. Zu Kain und Abel im Koran gibt es einen eigenen Beitrag.

In diesem Zusammenhang wird Vers 32 verständlicher. Kain hatte durch die Ermordung seines Bruders einen Großteil der damaligen Menschheit ausgerottet. Zugleich mit Abel hat er auch alle seine potenziellen Nachkommen zwar nicht direkt getötet, aber doch ihr Leben verhindert.

Der Autor dieses Verses verweist direkt auf eine jüdische Quelle, wenn er in Vers 32a schreibt:

Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Isrāʾīls vorgeschrieben:

Diese Quelle ist aber nicht die Thora, sondern der Talmud:

Wisset, dass Lebenssachen nicht wie Geldsachen sind, bei Geldsachen kann der Mensch das Geld wiedergeben, und es wird ihm eine Sühne, aber bei Lebenssachen haftet an ihm des Hingerichteten Blut und das Blut seiner (möglichen) Nachkommen bis an der Welt Ende, denn so finden wir bei Kajin der seinen Bruder erschlug, da heisst es (Gen. 4, 10): „Das mehrfache Blut deines Bruders schreit.“ Es heisst nicht: „das Blut deines Bruders“, sondern: „das mehrfache Blut deines Bruders,“ nämlich sein Blut und das Blut seiner (möglichen) Nachkommen. Deshalb ist nur ein einziger Mensch erschaffen worden, um dich zu lehren, dass wenn einer eine Person von Israel vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn einer eine Person von Israel erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten. (Mischna Sanhedrin 4,5)

Der Verfasser des Koranverses hatte wohl nicht den Text des Talmuds vor sich. Aber ihm war die im Talmud niedergeschriebene Überlieferung bekannt. Er hat aber nicht durchschaut, dass es sich hier nicht um ein Wort Gottes an das Volk Israel handelte, sondern um eine jüdische Schrifterklärung. Somit zeigt auch dieser Vers wieder einmal, dass nicht der allmächtige und allwissende Gott der Autor des Korans ist, sondern ein Mensch, der nicht zwischen der Thora und einer viel späteren jüdischen Erklärung unterscheiden konnte.

Beim Zitat aus der Mischna Sanhedrin fällt auf, dass hier nur von einer Person (wörtlich: Seele) aus Israel die Rede ist.1 Das ist im Zusammenhang mit Kain und Abel zumindest anachronistisch. Der koranische Autor, der kein Freund der Juden war, hat diese Einschränkung weggelassen.

Wichtig ist, dass der in unserer Zeit zur Verteidigung des „authentischen Islams“ angeführte Vers ohne die Einleitungsworte

Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Isrāʾīls vorgeschrieben

zitiert wird. Es geht um eine Vorschrift an die Kinder Israels. Von einer allgemeinen Vorschrift an die Muslime oder alle Menschen ist keine Rede. Es wird bewusst aus dem Zusammenhang gerissen zitiert, weil die Islamgelehrten nicht damit rechnen, dass tatsächlich jemand im Koran nachschaut, was dort wirklich steht. In der „Gemeinsamen Erklärung“ wird nicht einmal die Koranstelle angeführt, um es den Menschen möglichst schwer zu machen, den Originaltext kennenzulernen. Der „Papst“ spielt bei diesem Spiel mit. Das sagt viel über die Ehrlichkeit beider Religionsführer.

In Sure 5,32 findet sich die Einschränkung:

[…] ohne (daß es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat) […]

Das erinnert an Genesis 9,5b-6:

Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem, der es seinem Bruder nimmt. 6 Wer Blut eines Menschen vergießt, um dieses Menschen willen wird auch sein Blut vergossen. Denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht.

Die Todesstrafe für Mord ist sowohl in Sure 5,32 als auch in Genesis 9,5-6 ausdrücklich genannt. Insofern ist die Einschränkung im Koran korrekt. Der zweite Begriff, wo es darum geht, dass jemand „auf der Erde Unheil gestiftet hat“, ist äußerst schwammig. Man kann darunter alles Mögliche verstehen.

Dieser Begriff kommt auch in Vers 33 vor. Dieser Vers ist nun keine Sondervorschrift für die Kinder Israels, sondern für alle Menschen, auf jeden Fall für die Muslime.

Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften, ist indessen (der), daß sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder daß ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder daß sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits gibt es für sie gewaltige Strafe.

Es geht um brutale Strafen für diejenigen, die gegen Allah und seinen Gesandten (= Mohammed) Krieg führen oder auf der Erde Unheil stiften. Es stehen drei verschiedene Strafen zur Auswahl:

  • Todesstrafe, insbesondere Kreuzigung
  • Wechselseitiges Abhacken der Hände und Füße
  • Verbannung

Die Verbannung ist darunter noch die mildeste Strafe.

Wer führt „Krieg gegen Allah und seinen Gesandten“? Die Karikaturisten von „Charlie Hebdo“, die Allah und Mohammed lächerlich gemacht haben, führten in den Augen der islamischen Terroristen, die den Anschlag verübten, definitiv diesen Krieg. Sie fühlten sich durch Sure 5,33 berechtigt oder sogar bevollmächtigt, diesen Menschen die ihnen von Allah bestimmte Strafe zuzufügen. Insofern geht die Argumentation westlicher Islamforscher mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat völlig ins Leere.

Ist es, wenn jemand öffentlich behauptet, dass Mohammed ein falscher Prophet ist und der Koran nicht das Wort des ewigen Gottes, nicht auch so, dass er gegen „Allah und seinen Gesandten“ kämpft? Hat dann nicht jeder Islamkritiker, der sich im Macht- oder Einflussbereich von Muslimen befindet, damit zu rechnen, dass ihm „Krieg gegen Allah und seinen Gesandten“ vorgeworfen wird, oder dass er „Unheil auf der Erde stiftet“? Somit kann sich kein Islamkritiker seines Lebens sicher sein.

Nicht Sure 5,32 zeigt den authentischen Islam, sondern die darauffolgenden Verse. Immerhin geht es im folgenden Vers 35 um den Dschihad, nicht um den im Koran nicht genannten „Großen“ Dschihad gegen seine Sünden, sondern um den Dschihad mit Waffen und Krieg.

O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Allah und trachtet danach, Ihm nahezukommen und kämpft auf Seinem Wege, auf daß ihr Erfolg haben möget. (Sure 5,35 – Abu-r-Rida)

Wir sehen, dass islamische Propaganda nicht vor einer falschen Zitierung ihrer eigenen Schrift zurückweichen, um bewusst ein friedliches Bild des Islams zu zeichnen. Wer den Zusammenhang liest, durchschaut diese Propagandalüge schnell.

Ein Mund, der die Wahrheit sagt, hat für immer Bestand, eine lügnerische Zunge nur einen Augenblick. (Sprichwörter 12,19)

Gottes Wahrheit wurde endgültig in Jesus Christus offenbart.

Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. (Johannes 14,6)


  1. Im deutschen Text, den ich von sefaria.org kopiert habe, steht „von Israel“ aus einem mir unbekannten Grund eingeklammert. Aber der hebräische Text hat diese Wörter. Deswegen habe ich in meinem Zitat die Klammern entfernt. 

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