Schreiben und Lesen in der Richterzeit?

Mitunter wird von Theologen angenommen, dass im alten Israel nur eine kleine Elite des Schreibens und Lesens mächtig war. Es gibt jedoch einen Text im Buch der Richter, der in eine andere Richtung weist.

4 Als Gideon an den Jordan gekommen und mit den dreihundert Männern, die bei ihm waren, hinübergegangen war, erschöpft von der Verfolgung, 5 sagte er zu den Einwohnern von Sukkot: Gebt doch den Leuten, die mir folgen, einige Laibe Brot; denn sie sind erschöpft. Ich bin dabei, Sebach und Zalmunna, die Könige von Midian, zu verfolgen. 6 Doch die Oberen von Sukkot entgegneten: Sind denn die Hände von Sebach und Zalmunna schon in deiner Hand, dass wir deinem Heer Brot geben sollten? 7 Darauf sagte Gideon: Wahrhaftig, wenn der HERR Sebach und Zalmunna in meine Hand gibt, dann dresche ich euch den Leib mit Wüstendornen und Stechdisteln. […]
12 Sebach und Zalmunna flohen, aber er verfolgte sie, nahm die beiden Midianiterkönige Sebach und Zalmunna gefangen und scheuchte das ganze Heerlager auseinander. 13 Als Gideon, der Sohn des Joasch, aus dem Kampf von Maale-Heres zurückkehrte, 14 nahm er einen jungen Mann fest, der zu den Leuten von Sukkot gehörte. Er fragte ihn aus und dieser musste ihm die Oberen und Ältesten von Sukkot aufschreiben, siebenundsiebzig Männer. 15 Als er nun zu den Einwohnern von Sukkot kam, sagte er: Hier sind Sebach und Zalmunna, deretwegen ihr mich verhöhnt habt mit den Worten: Sind denn die Hände von Sebach und Zalmunna schon in deiner Hand, dass wir deinen erschöpften Männern Brot geben sollten? 16 Dann ergriff er die Ältesten der Stadt und Wüstendornen und Stechdisteln und drosch mit ihnen die Männer von Sukkot. (Richter 8,4-7.12-16)

Da die Oberen der östlich des Jordans gelegenen Stadt Sukkot den erschöpften Kämpfern Gideons, die die Könige der Midianiter verfolgten, nicht helfen wollten, hat ihnen Gideon eine Strafe angekündigt. Nachdem Gideon die feindlichen Führer festgenommen hatte, ließ er sich von einem jungen Mann aus Sukkot die Namen der Ältesten aufschreiben. Das setzt voraus, dass damals (ca. 12. Jahrhundert v. Chr.) zu erwarten war, dass ein junger Mann schreiben konnte. Lesen und schreiben konnten offensichtlich nicht nur wenige Spitzenbeamte der Oberschicht. Es war auch unter einfachen Leuten zu erwarten, dass sie diese Grundfähigkeiten beherrschten.

Wenngleich aus dieser Frühzeit Israels aufgrund der Umweltbedingungen keine schriftlichen Zeugnisse erhalten sind (eine Ausnahme stellt vielleicht dieser Fund dar), heißt das nicht, dass die meisten Israeliten damals Analphabeten waren.

Ein unbedeutendes Detail der Erzählung, die mit ihrem Hauptthema nur am Rande zu tun hatte, gibt einen kleinen Einblick in das damalige Bildungsniveau.

Auch unter der Annahme, dass die derzeitige Form des Richterbuchs aus einer späteren Zeit stammt, ist nicht zu erwarten, dass dieses nebensächliche Detail erst nachträglich eingefügt worden wäre. Israel wurde nicht erst nach dem babylonischen Exil zum „Volk der Schrift“. Weil Gottes Gesetz für das ganze Volk bedeutsam war, war auch das Lesen und Schreiben nicht nur einer kleinen Elite vorbehalten.

4 Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. 5 Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. 6 Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. 7 Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. 8 Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. 9 Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben. (Deuteronomium 6,4-9)

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