„Das Kamel Gottes“ – eine verschwundene Sure?

Johannes von Damaskus gilt als der letzte Kirchenvater. Sein Vater war in Damaskus in der Finanzverwaltung des ersten Umayyadenkalifen Muawiya tätig, bei dem allerdings nach dem neueren Stand der Forschung eher unwahrscheinlich ist, dass man diesen einen Muslim nennen konnte. Johannes soll in seiner Kindheit als Spielgefährte des künftigen Kalifen Yazid am Herrscherhof zu Gast gewesen sein. Er hat die Frühzeit der später „Islam“ genannten neuen Religion persönlich miterlebt. Als es unter Umar II. Juden und Christen verboten war, hohe Staatsämter zu bekleiden, zog sich Johannes in ein Kloster in Jerusalem zurück. Dort schrieb er nach 742/743 sein Hauptwerk „Quelle der Erkenntnis“. Den zweiten Teil dieses Werkes stellte sein Buch „De Häresibus“ (Über die Häresien) dar. Dort behandelte er als 100. Häresie die „Hagarener“ oder „Ismaeliten“. In seinen Augen handelte es sich um eine christliche Häresie. Diese Häresie hat sich zu der später „Islam“ genannten Religion entwickelt. Sein Werk ist die früheste umfangreichere inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser im Entstehen begriffenen Religion.

Johannes kannte die auf „Mamed“ zurückgeführten Schriften. Er nannte einige Suren (von ihm γραφή / graphē – „Schrift“ genannt) namentlich, so die Sure 2 („Die junge Kuh“), die Sure 4 („Die Frau“) und die Sure 5 („Der Tisch“). Interessanterweise erwähnte er auch eine Sure, die es im heutigen Koran nicht gibt: „Das Kamel Gottes“. Er schreibt:1

Ferner <gibt es> eine Schrift „Das Kamel Gottes“, über das es heißt: „Es war <einmal> eine Kamelstute von Gott her, die einen ganzen Fluß austrank und nicht mehr zwischen zwei Bergen hindurchgehen <konnte>, da sie nicht <genügend> Platz boten. Da waren Leute an dem Ort, heißt es, und den einen Tag tranken diese von dem Wasser, am folgenden aber die Kamelstute. Wenn sie das Wasser trank, nährte sie sie, indem sie ihre Milch statt des Wassers darreichte. Jene Männer nun, heißt es <weiter>, erhoben sich, da sie böse waren, und töteten die Kamelstute. Es gab aber ein kleines Kamel, ihren Sprößling, das, wie sie sagen, als seine Mutter getötet worden war, zu Gott rief; der aber nahm es zu sich auf.“ – Wir sagen zu ihnen: Woher kam jenes <kleine> Kamel? Sie behaupten, von Gott. Wir sagen: Hatte ein anderes Kamel Verkehr mit der Kamelstute? Sie sagen: Nein. Wie konnte sie dann gebären? fragen wir. Denn wir sehen eure Kamelstute, ohne Vater, ohne Mutter, ohne Vorfahren, wie sie gebiert und Schlimmes erleidet. Doch auch <das Kamel>, das mit ihr Verkehr hatte, erscheint nicht, und das kleine Kamel wurde <in den Himmel> aufgenommen. […]

Eine höchst seltsame Geschichte, in der das „kleine Kamel“ aber gewisse Ähnlichkeiten mit Jesus hatte. Es wurde ohne Vater geboren und in den Himmel aufgenommen.

Im Koran gibt es diese Geschichte nicht. Es gibt aber verstreut durch den Koran verschiedene Hinweise auf ein Kamel:

73 Und (Wir sandten) zu Ṯamūd ihren Bruder Ṣāliḥ. Er sagte: „O mein Volk, dient Allah! Keinen Gott habt ihr außer Ihm. Nun ist ein klarer Beweis von eurem Herrn zu euch gekommen: Dies ist die Kamelstute Allahs, euch zum Zeichen. So laßt sie auf Allahs Erde fressen und fügt ihr nichts Böses zu, sonst überkommt euch schmerzhafte Strafe. […] 77 Dann schnitten sie der Kamelstute die Sehnen durch und lehnten sich gegen den Befehl ihres Herrn auf. Und sie sagten: „O Ṣāliḥ, bringe uns doch her, was du uns angedroht hast, wenn du zu den Gesandten gehörst!“ 78 Da ergriff sie das Zittern, und am Morgen lagen sie in ihrer Wohnstätte auf den Brüsten da. 79 So kehrte er sich von ihnen ab und sagte: „O mein Volk, ich habe euch doch die Botschaft meines Herrn ausgerichtet und euch gut geraten. Aber ihr liebt nicht die guten Ratgeber.“ (Sure 7,73.77-79)

141 Die Ṯamūd bezichtigten die Gesandten der Lüge. 142 Als ihr Bruder Ṣāliḥ zu ihnen sagte: „Wollt ihr nicht gottesfürchtig sein? 143 Gewiß, ich bin für euch ein vertrauenswürdiger Gesandter. 144 So fürchtet Allah und gehorcht mir. […] 155 Er sagte: „Dies ist eine Kamelstute; sie hat eine Trinkzeit, und ihr habt eine Trinkzeit an einem bestimmten Tag. 156 Fügt ihr nichts Böses zu, sonst überkommt euch die Strafe eines gewaltigen Tages.“ 157 Aber sie schnitten ihr die Sehnen durch. So wurden sie zu Leuten, die Reue empfinden. 158 Da ergriff sie die Strafe. Darin ist wahrlich ein Zeichen, doch sind die meisten von ihnen nicht gläubig. 159 Und dein Herr ist fürwahr der Allmächtige und Barmherzige. (Sure 26,141-144.155-159)

23 Die Ṯamūd erklärten die Warnungen für Lüge. […] 27 Wir werden die Kamelstute senden als Versuchung für sie. So warte mit ihnen ab und sei beharrlich. 28 Und tu ihnen kund, daß das Wasser zwischen ihnen (und der Kamelstute) zu teilen ist. Jeder Trinkanteil soll (dann abwechselnd) wahrgenommen werden. 29 Da riefen sie ihren Gefährten her. Er griff zu und schnitt dann (der Kamelstute) die Sehnen durch. 30 Wie waren da Meine Strafe und Meine Warnungen! (Sure 54,23.27-30)

11 Die Ṯamūd erklärten in ihrer Auflehnung (die Botschaft) für Lüge, 12 als der Unseligste von ihnen sich erhob. 13 Allahs Gesandter sagte zu ihnen: „(Achtet auf) Allahs Kamelstute und ihre Trinkzeit.“ 14 Sie aber bezichtigten ihn der Lüge, und so schnitten sie ihr die Sehnen durch. Da schmetterte ihr Herr sie für ihre Sünde nieder, und so ebnete Er über ihnen die Erde ein. (Sure 91,11-14)

Diese Abschnitte erwecken den Eindruck, dass sie auf eine den Zuhörern oder Lesern bekannte Begebenheit verweisen. Die von Johannes gebotene Version bringt etwas mehr Zusammenhang, auch wenn sie das Strafgericht, das den koranischen Stellen wichtig ist, nicht erzählt. Im Koran fehlt auch der Hinweis auf das kleine Kamel. Gerade dieses kleine Kamel war in der von Johannes von Damaskus erzählten Diskussion mit den Ismaeliten aber sehr wichtig. Das spricht dafür, dass dieser Teil der Erzählung seinen „islamischen“ Gesprächspartnern bekannt war. Die in Damaskus vorhandene Version des (Proto-)Korans enthielt offenbar einen Abschnitt, der „Das Kamel Gottes“ hieß. Sonst hätte Johannes, der in einem von der neuen Religion beherrschten Umfeld lebte, das nicht so einfach behaupten können.

Daraus lässt sich schließen, dass um die Mitte des 8. Jahrhunderts der Koran noch nicht abgeschlossen war. Möglicherweise hat gerade die Kritik von Johannes an diesem Korankapitel dazu geführt, dass dieser Abschnitt wieder aus der „Heiligen Schrift“ der im Entstehen begriffenen Religion entfernt wurde. Anspielungen in anderen Teilen des Korans auf die in der entfernten Sure erzählte Geschichte blieben aber erhalten.

Die von heutigen Muslimen behauptete unverfälschte Bewahrung des Korans seit der Zeit Mohammeds erweist sich als ebenso fantasievoll wie die Geschichte vom „Kamel Gottes“ in der getilgten Sure.


  1. Zitiert nach Reinhold Glei / Adel Theodor Khoury, Johannes Damaskenos und Theodor Abu Qurra, Würzburg 1995, S. 81-83. Ich habe den Text leicht korrigiert. 

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